DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Heß Karl (13.1.1900 Darmstadt - 15.4.1975 Porto Allegre, Brasilien) beruflich als Rechtsanwalt tätig und gesellschaftlich Präsident des Sportvereins Darmstadt 98 engagiert, war eine in Darmstadt bekannte und anerkannte Persönlichkeit.

"In der Geschichte des Vereins wird sein Name mit an erster Stelle zu nennen sein. Es ist ihm gelungen, unserem Verein das Ansehen zu verschaffen, das ihm nach seiner Vergangenheit, nach seiner Größe und nach seiner Bedeutung gebührt".

Mit diesen Zeilen würdigte die Vereinszeitung des SV Darmstadt 98 im April 1933 ihren Ersten Vorsitzenden Dr. Karl Heß. Das war zu diesem Zeitpunkt alles andere als eine Selbstverständlichkeit, denn Karl Heß wurde als Jude seit der Machtübernahme Adolf Hitlers aus der "Volksgemeinschaft" der Nationalsozialisten zunehmend ausgeschlossen.

Karl Heß (5. von rechts) 1932 noch als Vereinspräsident vom SV Darmstadt 98
Karl Heß (5. von rechts) 1932 noch als Vereinspräsident vom SV Darmstadt 98 [8]
Karl Heß besuchte das Alte Realgymnasium (Vorgänger des heutigen LGG) und studierte anschließend Rechtswissenschaften, legte 1921 das Referendarexamen an der Universität Gießen ab und promovierte zum Dr. jur. zwei Jahre später an der Universität Heidelberg mit dem Prädikat magna cum laude. Der Titel seiner Dissertation lautete "Die Verbürgung der freien Meinungsäußerung nach geltendem Recht". 1925 legte er das juristische Staatsexamen ab und war im Hessischen Justizministerium und im Reichfinanzdienst tätig, bevor er sich 1926 als Rechtsanwalt mit Zulassung für das Oberlandesgericht in Darmstadt niederließ. Seine Kanzlei betrieb er gemeinsam mit Dr. Max Ranis in der Wilhelminenstraße 25, seine Wohnung befand sich in der Annastraße 22 (1930) bzw. im Fiedlerweg 1 (1933).

Schon in seiner Kindheit kam Heß durch den späteren Lilien-Trainer Heiner Bärenz, der im Geschäft seines Vaters arbeitete, mit dem Fußball in Kontakt. Noch vor der Gründung des SV Darmstadt kickte Heß im Vorgängerverein Olympia. Bereits 1924 wurde er mit gerade einmal 24 Jahren zum Zweiten Vorsitzenden des Vereins, vier Jahre später zum Ersten Vorsitzenden gewählt.

Als Jurist wurde Heß bereits im April 1933 mit einem Berufsverbot belegt und als Vorsitzender des SV 98 zum Rücktritt gezwungen. Schweren Herzens entschloss er sich, Deutschland zu verlassen und flüchtete zunächst nach Frankreich. Doch nachdem Deutschland 1933 aus dem Völkerbund ausgetreten war, habe sich auch die Einstellung der Franzosen gegenüber dem "Deutschen" Dr. Heß gewandelt. Nachdem sich Meldungen über wachsenden offenen Antisemitismus in Deutschland häuften, entschloss er sich zur Auswanderung nach Brasilien. Dort betrieb er zu Beginn einen kleinen Laden, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu bestreiten. Später konnte er als Leiter der Zweigstelle der "United Restitution Organization" in Rio de Janeiro als Jurist arbeiten, die Verfolgte des Naziregimes im In- und Ausland vertrat. Inzwischen hatte ihm das NS-Regime 1940 die Staatsbürgerschaft entzogen.
(siehe auch: Schicksale jüdischer Anwälte im Landgerichtsbezirk Darmstadt)

Sein Kontakt zu Freunden in Darmstadt war nicht abgerissen. Zehn Jahre nach Ende der Naziherrschaft besuchte er Deutschland, und 1963 zog er mit seiner Frau Betty trotz großer innerer Vorbehalte wieder zurück in die alte Heimat:

"Ich bin nicht als Jude zurückgekommen, sondern als jüdischer Deutscher, der Hitler nicht den Triumph lassen wollte, ihm seine Heimat geraubt zu haben."

sagt er. Heß arbeitete im Rechtsamt der Stadt Darmstadt bis zu seiner Pensionierung im Februar 1965. Zu dieser Zeit gab es in Darmstadt, auch in der Stadtverwaltung, noch viele ehemalige Nationalsozialisten, die jenen, die der Ermordung gerade noch entgehen konnten, mit Sicherheit nicht wohlgesonnen waren. So litt wohl auch Heß unter einem Vorgesetzten, der nur formal entnazifiziert war.

In den Adressbüchern von 1964/65 bis 1972/73 ist er unter dem Eintrag "Heß, Karl, Dr., Volljurist, Dieburger Straße 48" zu finden.

1973 verließ er Darmstadt und kehrte zur Familie seines Sohnes nach Porto Allegre (Brasilien) zurück, wo er zwei Jahre später starb.

Sein früherer Verein, die 98er, gedachten ihres früheren Vorsitzenden Heß in ihrer Mitgliederzeitung im Oktober 2009 mit einem langen Artikel. Bereits hier bezeichnet der Verfasser des Artikels Heß als "großen, wichtigen Vertreter unseres SV Darmstadt 98". Ein Jahr später würdigt der Verein Heß zu dessen 110. Geburtstag als "jüdischen Fußballpionier".

Seit Sonntag, dem 15. Januar 2017, heißt der Platz vor dem Stadion am Böllenfalltor "Dr.-Karl-Heß-Platz". Gleichzeitig enthüllten Oberbürgermeister Partsch, der Präsident von SV 98 Rüdiger Fritsch und der Vorsitzende des Fördervereins Liberale Synagoge eine Gedenktafel mit einer kurzen Biografie des ehemaligen Vorsitzenden des Vereins.

Am 5. Februar 2024 wurde eine Stolperschwelle (siehe Stolpersteine) zum Gedenken an die verfolgten jüdischen und anderen Sportler in Darmstadt und Umgebung in den Boden des Platzes eingelassen.


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