DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Anrich, Ernst (9.8.1906 Straßburg - 21.10.2001 Seeheim-Jugenheim) war ein deutscher Historiker
und Nationalsozialist. Der Sohn des Theologieprofessors Gustav Adolf
Anrich trat 1928 in den NS-Studentenbund und 1930 in die NSDAP
ein. 1931 wurde er wegen Umsturzversuchen in der Reichsjugendführung
jedoch wieder aus der Partei ausgeschlossen. Seit 1932 war Anrich
Privatdozent in Bonn und seit 1938 als außerordentlicher sowie seit
1940 als ordentlicher Professor an der Universität Hamburg tätig. In
Kooperation mit der SS und dem Reichssicherheitshauptamt wurde Anrich
noch im selben Jahr Bevollmächtigter des Reichsdozentenführers für den
Aufbau der sogenannten "NS-Kampfuniversität" Straßburg und dort Dekan
der Philosophischen Fakultät sowie Dozentenführer der Universität.
Außerdem war er Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes und arbeitete in
verschiedenen agitatorischen Funktionen für das
Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Nach 1945 war Anrich
Professor zur Wiederverwendung. Er gründete zusammen mit anderen 1949
in Tübingen die "Wissenschaftliche Buchgemeinschaft e. V."(die später
in "Wissenschaftliche Buchgesellschaft" umbenannt wurde), tauchte
jedoch in dessen Gründungprotokoll nicht auf. In einer bemerkenswert
offenen Veröffentlichung der WBG findet sich hierzu folgende Begründung:
"In
Anbetracht der Rolle, die Anrich in der Zeit des Nationalsozialismus
insbesondere im besetzten Elsass-Lothringen spielte, hätten die
französischen Behörden die Zulassung aber sicher verweigert, wenn er
selbst in Erscheinung getreten wäre. Denn der überzeugte
Nationalsozialist Anrich hatte entscheidenden Anteil beim Aufbau der
Reichsuniversität Straßburg und ihrer streng regimetreuen Ausrichtung.
Anrich erklärte später, dass seine »Erfahrungen in den Gestaltungs- und
Wesensfragen der Universität durch die Mitwirkung am Aufbau der
Universität in Straßburg« auch bei der Errichtung der
Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft nützlich gewesen seien. Diese hatte
er nicht zuletzt aus der eigenen ökonomischen Not heraus gegründet,
weil er nach dem Krieg ohne Lehrstuhl und damit ohne Einkommen war.
Eine Wiederaufnahme in eine deutsche Universität war an seiner
belasteten Vergangenheit gescheitert…. Seit dem 1. Februar 1949 war
Anrich offiziell als angestellter »Vorstandssekretär« beschäftigt, aber
erst 1953 trat er als Geschäftsführender Direktor offiziell in den
Vorstand ein."
Im Frühjahr 1953 verlegte die von ihm
geführte WBG "Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt" ihren Sitz
von Tübingen nach Darmstadt.
Seine Karriere in der WBG endete
jedoch im Jahr 1966 – aus politischen Gründen. Die bereits oben
zitierte Veröffentlichung beschreibt dies so:
"Im
Jahr 1966 sollte es zu einem Bruch in der langjährigen personellen
Kontinuität an der Spitze der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft
kommen. Bis dahin hatte Ernst Anrich, der maßgebliche Initiator und
eigentliche Gründer der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft, ihre
Geschäfte geführt.
Nachdem
Anrich im Juni 1966 auf einem Parteitag der rechtsextremen NPD eine
Rede gehalten hatte, die verfassungsfeindliche und antidemokratische
Parolen enthielt, berief der Vorstand die erste außerordentliche
Sitzung in der Vereinsgeschichte ein. Sie fand am 23. Juli 1966 in
Tübingen statt, und ihr einziger Tagesordnungspunkt war die Entlassung
des Geschäftsführenden Direktors Ernst Anrich und die Regelung seiner
Nachfolge. In Anwesenheit von Anrich wurde einstimmig beschlossen, dass
er mit sofortiger Wirkung aus dem Vorstand und der Geschäftsführung der
WBG ausscheidet. Wegen vertraglicher Verpflichtung und aufgrund seiner
Verdienste beim Aufbau der Buchgemeinschaft sollten sein Gehalt aber
bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres weiter gezahlt werden und seine
Pensionsansprüche erhalten bleiben. Den Mitgliedern soll das
Ausscheiden Anrichs »kommentarlos und ohne Angabe von Gründen
mitgeteilt werden«.
Fünf
Tage nach der Vorstandssitzung gab der damalige Vorstandsvorsitzende
Adolf Köberle die Entscheidung in einer Betriebsversammlung den
Mitarbeitern bekannt. Köberle machte in seiner Ansprache deutlich, dass
er den Abgang Anrichs zwar bedauere, aber nach dem Geschehenen keine
Zusammenarbeit mehr möglich gewesen sei: »Es ist ein besonderer [...],
ein schmerzlich und mich tief bewegender Anlaß, der uns heute in dieser
Morgenstunde hier zusammenführt. Sie haben das vielleicht auch schon
persönlich einmal erlebt und durchgemacht, daß man eine Persönlichkeit
hoch schätzt und verehrt und um ihren vollen Wert weiß [...] und
trotzdem kann es sein, daß sich eine gewisse spannungsvolle
Konfliktsituation ergibt, aus der heraus das Zusammenarbeiten und
Zusammenbleiben nicht mehr recht gelingen will und möglich erscheint.«
Auch Anrich selbst bekam die Gelegenheit zu Abschiedsworten an die
Mitarbeiter, in denen er sich als Opfer stilisierte und seinen Gegnern
mangelnde demokratische Reife vorwarf: »Also ich fühle mich vor meinem
[Gewissen, d.V.] gezwungen, für dieses Nationale einzutreten und auf
der anderen Seite ist es heute so, daß die Demokratie in unserem Volke
noch nicht so reif ist [...], daß, wenn ein Direktor der
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft [...] politisch in diesem Sinne
tätig ist, nicht die Gefahr besteht, daß von vielen Seiten die Sorge
aufkommt [...], daß damit die Neutralität und der wissenschaftliche
gleichbleibende Charakter der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft
gefährdet sei. Ich habe dem gegenüber zu antworten, meine politische
Einstellung war nie anders. Ich habe 16 oder 17 Jahre die
Buchgesellschaft geführt, speziell ihr Programm bestimmt und es hat
sich ausgezeichnet durch Neutralität und es hätte sich auch weiter
dadurch ausgezeichnet. Andererseits aber müssen wir mit den Realitäten
des heutigen politischen und gesellschaftlichen Lebens rechnen und ich
darf nicht das eigene Werk der Gefahr aussetzen, daß dadurch Unruhe
entsteht. Und infolgedessen sind wir im Vorstand eben vereinbart
übereingekommen, daß ich von diesem Amt nun weggehe.« In seiner Rede
bekannte der vormalige überzeugte Nationalsozialist Anrich, der nach
dem Krieg zeitweise für die CDU im Darmstädter Stadtrat saß, also
einerseits, dass er seine Gesinnung nie geändert habe. Andererseits
behauptete er, dass seine politische Einstellung keinen Einfluss auf
die Neutralität der Buchgemeinschaft gehabt habe. Im WBG-Programm der
Jahre von 1949 bis 1966 finden sich zwar keine nationalsozialistisch
oder rassistisch ausgerichteten Titel. Gleichzeitig wäre es aber naiv
davon auszugehen, dass Anrich die Zusammensetzung des Programms nicht
beeinflusst hätte. Er selbst hatte bei der WBG seine
Qualifikationsarbeiten aus der Vorkriegszeit wieder veröffentlicht.
Seine Dissertation und Habilitation, die sich beide mit der Julikrise
1914 beschäftigten, erschienen aus Anlass der »Fischer-Kontroverse« in
der ersten Hälfte der 60er Jahre, als die Geschichtswissenschaft um die
Verantwortung des Deutschen Kaiserreiches für den Ausbruch des Ersten
Weltkrieges stritt. In seinen wieder aufgelegten Schriften lehnte
Anrich eine deutsche Kriegsschuld ab und vertrat die Ansicht, dass vor
allem Serbien und Russland verantwortlich für den Kriegsausbruch
gewesen seien. Auch krude wissenschaftliche Werke etwa zur Astrologie
erschienen bei der WBG. Sein eigenes skurriles Interesse an
Parapsychologie und an einer Verbindung von Tiefenpsychologie und
Naturwissenschaft sorgten dafür, dass 1958 das aus dem
geisteswissenschaftlichen Rahmen fallende Programmgebiet
»Tiefenpsychologie und wissenschaftliche Grenzgebiete« eingerichtet
wurde. Schon an der Reichsuniversität Straßburg hatte Anrich mit dem
Aufbau einer »Bibliothek für Grenzwissenschaften« begonnen.
Auch
auffällig viele ehemalige Professorenkollegen Anrichs von der
Reichsuniversität Straßburg finden sich im WBG-Programm. Der Germanist
Gerhard Fricke, der 1933 an der Bücherverbrennung in Göttingen
teilgenommen und seit 1941 an der Reichsuniversität gelehrt hatte,
gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Wissenschaftlichen
Buchgemeinschaft und veröffentlichte dort bereits 1950 »Eine Geschichte
der deutschen Dichtung«. Von Günther Franz, der in Straßburg einen
Lehrstuhl zur »Erforschung des deutschen Volkskörpers« innegehabt
hatte, wurde seine 1935 erschienene »Geschichte des deutschen
Bauernkrieges« wiederaufgelegt. Und der ehemalige Straßburger
Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber fungierte als Herausgeber der
»Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit«.
Erst im September 1966 wurden die Mitglieder in einer kurzen Meldung in den Arbeitsberichten über den Abgang Anrichs informiert:
»Den
Mitgliedern der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft teilen wir mit, daß
der Geschäftsführende Direktor, Herr Professor Dr. Anrich, mit
Erreichung des 60. Lebensjahres aus dem Vorstand und aus dem Werk
ausgeschieden ist.« Diese lapidare Art der Mitteilung unter Angabe
eines falschen Entlassungsgrundes führte zu Kritik von Mitgliedern, die
in Briefen um genauere Aufklärung der Sache baten. Als die Presse dann
Anlass und Umstände von Anrichs Entlassung bekanntmachte, u.a. auch die
zeitweilige Fortzahlung seines vollen Gehalts, kam es zu Austritten aus
der WBG.
Anrich
engagierte sich weiter in rechtsextremen Kreisen und war in der
Öffentlichkeit bald als »NPD-Chefideologe« bekannt. Die WBG brach jeden
Kontakt zu ihm ab. Doch Anrich wandte sich in den folgenden Jahren
immer wieder mit Bitten an den Vorstand der WBG. Zum einen wollte er im
Verlagshaus Akten zur Ergänzung seiner Memoiren einsehen, was jedoch
abgelehnt wurde. Zum anderen versuchte er eine Erhöhung seiner Pension
zu erreichen. Nach mehrmaligem Drängen stimmte der Vorstand dem zu,
obwohl Anrich auch aus seiner früheren Tätigkeit als Professor an der
Reichsuniversität Straßburg eine staatliche Pensionszahlung erhielt.
Die
WBG vermied es nach den Ereignissen von 1966 fortan, mit dem Namen
Anrich in Verbindung gebracht zu werden. Als sie in ihrem Magazin zum
50. Gründungsjubiläum 1999 den Namen ihres Gründers allerdings ganz
verschwieg, stieß das auf eine massive öffentliche Kritik. Die »Neue
Zürcher Zeitung« schrieb damals kritisch: »Von einem Unternehmen, das
sich dem Leitspruch ›Vorsprung durch mehr Wissen‹ verschrieben hat,
sollte man mehr Mut zur historischen Wahrheit erwarten dürfen.« Im
gleichen Blatt hatte der Hamburger Verleger Matthias Wegner einige
Jahre zuvor darauf hingewiesen, dass die politischen Ansichten Anrichs
seine Verdienste beim Aufbau der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft
nicht schmälern würden."
Anrich saß zeitweise im Vorstand
der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und galt als deren
Chefideologe. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien nach
Anrichs Tod unter der Überschrift »Wege der Forschung. Von der SS zur
WB: Die Karrieren des Historikers Ernst Anrich« ein Nachruf.
Der
Vorstand der WBG, deren Gründer und Geschäftsführender Direktor Anrich
viele Jahre war, nahm zwar an der Beisetzung nicht teil, stiftete
jedoch ein Kranzgebinde.
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