DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Boxheimer Dokumente So wird ein Geheimpapier führender hessischer Nationalsozialisten bezeichnet, das von dem späteren Sonderbeauftragten für das Polizeiwesen in Hessen und ab 1942 als Reichskommissar in Dänemark eingesetzten Dr. Werner Best, verfasst worden war und detaillierte Umsturzpläne beinhaltete. Es wurde offenbar auf einer Besprechung der Gaufachberater des Gaues Hessen-Darmstadt am 5. August 1931 auf dem "Boxheimer Hof" zwischen Bürstadt und Lampertheim, einem Gut, das seit 1927 an den Agrartechniker Richard Wagner verpachtet war, beraten und im November 1931 der Polizei zugespielt. Durch einen Artikel in der Vossischen Zeitung vom 26. November 1931 wurde die Öffentlichkeit über die Existenz dieser "Boxheimer Dokumente" informiert.

Die Boxheimer Dokumente im Wortlaut:

Entwurf der ersten Bekanntmachung unserer Führung nach dem Wegfall der seitherigen obersten Staatsbehörden und nach Überwindung der Kommune in einem für einheitliche Verwaltung geeigneten Gebiet.

Bekanntgabe: 1. durch öffentlichen Anschlag,
             2. durch Zustellung an alle Behörden.

Volksgenossen!
Die seitherigen Träger der Staatsgewalt, im Reiche wie im Lande, sind durch die Ereignisse der letzten Tage (Wochen) weggefallen. Durch diese tatsächliche Veränderung ist wie im November 1918 ein neuer Rechtszustand geschaffen. Ordnende Macht steht zur Zeit allein bei den . . . (SA., Landeswehren o. ä.). Ihre Führung hat deshalb das Recht und die Pflicht, zur Rettung des Volkes die verwaiste Staatsgewalt zu ergreifen und auszuüben. Sie tut dies im Namen der deutschen Nation, vor deren Zukunft allein sie für die Erfüllung ihrer Aufgabe und für die Wahl ihrer Mittel verantwortlich ist.

Die unerhörte Gefahr erfordert außerordentliche Maßnahmen, um zunächst das nackte Leben des Volkes zu retten. Erste Aufgabe ist Herstellung der öffentlichen Sicherheit und die Organisation der Volksernährung. Nur schärfste Disziplin der Bevölkerung und rücksichtsloses Durchgreifen der bewaffneten Macht lassen die Lösung dieser Aufgaben als möglich erscheinen.

Als Befehlshaber der ... (SA., Landeswehren o.ä.) in ... (Starkenburg, Rheinhessen, Oberhessen) gebe ich deshalb folgenden Befehl an die gesamte Bevölkerung des Landes bekannt:

  1. Jeder Anordnung der ... (SA., Landeswehren u. ä.), gleich von welchem Dienstgrade erteilt, ist sofort Folge zu leisten. Widerstand wird grundsätzlich mit dem Tode bestraft. Die Feldgerichte können beim Vorliegen besonderer Umstände andere Strafen verhängen.
  2. Jede Schußwaffe ist binnen 24 Stunden an die ... (SA, Landeswehren o. ä.) abzuliefern. Wer nach Ablauf dieser Frist im Besitz einer Schußwaffe angetroffen wird, wird als Feind der . (SA., Landeswehren o. ä.) und des deutschen Volkes ohne Verfahren auf der Stelle erschossen.
  3. Jeder im Dienste öffentlicher Behörden oder öffentlicher Verkehrsanstalten stehende Beamte, Angestellte und Arbeiter hat sofort seinen Dienst wieder aufzunehmen. Widerstand und Sabotage wird mit dem Tode bestraft.An die Stelle der obersten Staatsbehörden (Ministerien) tritt die Führung der ... (SA., Landeswehren o. ä.), vertreten durch mich.
  4. Die von der Führung der ... (SA., Landeswehren o. ä.) erlassenen Notverordnungen haben für jedermann mit dem Tage ihrer Veröffentlichung durch Anschlag Gesetzeskraft. Verstöße gegen diese Notverordnungen werden in besonders schweren Fällen über die ihnen bestimmten Strafen hinaus mit dem Tode bestraft.
  5. Soweit nicht die von der Führung der ... (SA., Landeswehren o. ä.) erlassenen Notverordnungen oder einzelne Anordnungen der ... (SA., Landeswehren o. ä.) entgegenstehen, bleiben alle bestehenden Gesetze in Kraft und sind von der Bevölkerung in jeder Hinsicht zu befolgen.


Richtlinien für die ersten Notverordnungen unserer Führung nach dem Wegfall der seitherigen obersten Staatsbehörden und nach Überwindung der Kommune in einem für einheitliche Verwaltung geeigneten Gebiet.

Grundsätze:
  1. Nur die einfachsten, dringendsten Maßnahmen.
  2. Klare, verständliche Fassung.
  3. Möglichst keine neuen Behörden, Einrichtungen, Dienststellen; Verwendung des vorhandenen Verwaltungsapparates.


Richtlinien für eine Notverordnung zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung.

Bekanntgabe: 1. durch öffentlichen Anschlag,
             2. durch Zustellung an die Kommunalbehörden.

A. Erfassung der Lebensmittel
  1. Alle Lebensmittel stehen zur Verfügung der Führung der ... (SA., Landeswehren o. ä.) und sind an deren Beauftragte auf Anforderung ohne Entgelt abzuliefern.
  2. Jeder Erzeuger (Urerzeuger und verarbeitender Erzeuger und Händler (Groß und Klein) hat unverzüglich eine genaue Aufstellung aller in seinem Eigentum stehenden (gleich wo lagernden oder in seinem Besitz befindlichen) Lebensmittel der für ihn zuständigen Bürgermeisterei einzureichen.
  3. Jeder Verkauf und jede tauschweise Veräußerung von Lebensmitteln ist verboten.
  4. Strafe für jede Vereitelung der Feststellung und Ablieferung und für jeden Verkauf und Tausch von Lebensmitteln:
    a) immer: Einziehung des gesamten Vermögens.

    b) daneben zulässig: jede Art und jeder Grad von Freiheitsstrafen. (Todesstrafe nach dem ersten »Befehl an die Bevölkerung« des Führers.)
...

B. Feststellung der zu Ernährenden

Jeder über 16 Jahre alte Mann bzw. Frau hat sich und seine nicht 16 Jahre alten Kinder unverzüglich bei der Bürgermeisterei des Aufenthaltsortes zu melden. Krankenhäuser und ähnliche Institute haben alle Insassen zu melden.

C. Durchführung der Volksernährung

  1. Kollektivspeisung.
  2. Zuteilung von Lebensmitteln.
    a) Ausgabe von Karten,
    b) Ausgabe der Lebensmittel gegen diese Karten (ohne Bezahlung).


Richtlinien für Verwaltungsmaßnahmen zur Durchführung der Notverordnung zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung.

  1. Anweisung an die Bürgermeistereien:
    a) Die Aufstellung der Lebensmittel und der zu Ernährenden sofort unserer Ernährungsstelle (siehe unter 2) einzureichen, desgleichen einen Vorschlag, welche Lebensmittelmenge die Gemeinde täglich benötigt.
    b) Die Kollektivspeisung einzurichten und die Ausgabe der Lebensmittelkarten und die Lebensmittelausgabe (Hilfskräfte die bisherigen Händler) vorzubereiten.
  2. Einrichtung einer Ernährungsstelle zur Verteilung der Lebensmittel auf die Gemeinden. (Hilfskräfte: die Beamten der mittleren Verwaltung: Kreisämter).


Richtlinien für eine Notverordnung zur Sicherung des gegenwärtigen Eigentumsstandes.

Bekanntgabe:  1. durch öffentlichen Anschlag,
              2. durch Zustellung an alle Gerichte,
                 Notare, Gerichtsvollzieher, Vollstreckungsbeamte.


Die Führung der ... (SA., Landeswehren o. ä.) ist gezwungen, zur Rettung des Lebens der Bevölkerung über alle vorhandenen Vorräte an verbrauchbaren lebensnotwendigen Gegenständen, d.h. praktisch über den gesamten Ertrag des Volksvermögens und damit des Vermögens jedes einzelnen Volksgenossen zu verfügen. Es gibt bis zu anderweitiger Regelung kein Privateinkommen mehr. Dafür wird der gegenwärtige Vermögensstand durch Sicherung des Eigentumsstandes und Feststellung der berechtigten Ansprüche sichergestellt. Hierfür sind folgende Maßnahmen anzuordnen:

  1. Jede Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen unterbleibt. Vorgenommene Vollstreckungsmaßnahmen sind aufzuheben.
  2. Jede Verjährung von Ansprüchen ist bis zum Ablauf eines Jahres seit Veröffentlichung dieser Verordnung gehemmt.
  3. Jeder Zinsenlauf für Geldforderungen ist bis zum Erlaß anderer Bestimmungen aufgehoben. Das gleiche gilt für den Mietzins für Wohnräume.
  4. Dingliche Belastungen von Grundstücken für Geldforderungen dürfen bis zum Erlaß anderer Bestimmungen nicht bestellt werden.
  5. Jeder Schuldner von Verbindlichkeiten über 10 Reichsmark hat dem für ihn zuständigen Amtsgericht ein Verzeichnis seiner Gläubiger und Schulden einzureichen. Das Gericht hat mit den Gläubigern eine Einigung über die Feststellung des Betrages der Schuld zu versuchen. Mißlingt dieser Versuch, so muß der Gläubiger binnen zwei Monaten gegen den Schuldner Feststellungsklage erheben, andernfalls die Forderung erlischt.


Richtlinien für die Schaffung eigener Verwaltungseinrichtungen

  1. Einrichtung von Feldgerichten zur Aburteilung von Verstößen gegen den »Befehl an die Bevölkerung« und gegen die Notverordnungen, um den Anschein der Willkür zu vermeiden. Vereinfachtes und beschleunigtes Verfahren in Anlehnung an die StrPO.
    Besetzung: Einzelrichter (Jurist); wenn Todesstrafe in Frage steht, drei Richter, darunter mindestens ein Jurist als Vorsitzender.
  2. Einrichtung einer Verwaltungsabteilung, die für die vorhandenen Behörden die Ministerien ersetzt und die Ingangsetzung der Verwaltung, der Entlassung und Ernennung von Beamten nach den Richtlinien der Rechtsabteilung des Gaues Hessen und die Ausarbeitung weiter erforderlicher Notverordnungen vorzunehmen hat.


Richtlinien für eine Notverordnung über die nationale Arbeitsdienstpflicht

  1. Jeder Deutsche (nicht Juden usw.) männlichen und weiblichen Geschlechts ist vom 16. Lebensjahr an zu Dienstleistung nach Anordnung der Behörden verpflichtet. Ausgenommen ist, wer der ... (SA., Landeswehr o. ä.) angehört oder beruflich im Dienst von Behörden steht. Ausnahme wegen Unfähigkeit nach besonderen Richtlinien.
  2. Der Anspruch auf Ernährung gemäß der Notverordnung zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung ist von der Erfüllung der Dienstpflicht bzw. von der Bereitschaft zu ihr (Appelle) abhängig.
  3. Art, Maß und Organisation der Pflichtarbeit nach den örtlichen Bedürfnissen.
a) In der Produktion
A: zunächst der dringenden Lebensbedürfnisse (Nahrung, Kleidung usw.);
B: in der Verarbeitung vorhandener Rohstoffe durch Schaffung von Außenhandelswerten.
b) In der Erhaltungsarbeit
A: an öffentlichen Anlagen (Straßen, Bauten usw.)
B: an Privatbesitz (Erhaltung der Wohnhäuser als Ersatz für den weggefallenen Mietzins).
c) In der Erweiterung des Nahrungsspielraums (Meliorationen usw.)


Da Werner Best, damals als Gerichtsassessor am Amtsgericht in Gernsheim tätig, als der Verfasser dieses Dokuments galt, wurde er aus dem Justizdienst des Volksstaates Hessen entlassen und wegen Hochverrats angeklagt. Von dieser Anklage wurde er aber im Oktober 1932 vom IV. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig mangels Beweisen freigesprochen. Andere Quellen sprechen von einer Einstellung des Verfahrens.

Versuche der Autoren, die "Boxheimer Dokumente" im Original oder als Faksimile-Abdruck zu erhalten, scheiterten. Nach Angaben des Direktors des Staatsarchivs Darmstadt, Dr. Rack, sind Original-Dokumente nicht bekannt [3].

Q: [1] [2] [3] [4]

 

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