DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Nieder-Ramstädter Heime der Inneren Mission
(seit 1999 "Nieder-Ramstädter Diakonie" (NRD)) Wenige Kilometer von
Darmstadt entfernt, in der Gemeinde Nieder-Ramstadt (heute ein Ortsteil
der Gemeinde Mühltal), liegt die Einrichtung der Diakonie, die sich der
Förderung und Betreuung von vorwiegend geistig behinderten Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen widmet. Nachdem eine Untersuchung im
Großherzogtum Hessen im Jahr 1880 ergab, dass in dieser Region über 600
Menschen mit Epilepsie lebten, für die es keine Versorgung gab, wurde
im Jahr 1898 die "Anstalt für Epileptische in Hessen" in
Nieder-Ramstadt gegründet.
Am 17. Oktober 1900 wurde dort die
hessische "Epileptischen-Anstalt Viktoria-Melita-Stift zu
Nieder-Ramstadt bei Darmstadt" in Anwesenheit der Großherzogin Viktoria
Melita mit ihrem Gefolge eingeweiht. Im Oktober 1903 lebten dort (im
Frauenhaus) 74 Menschen mit Behinderung. Im September 1909 wurde das
Männerhaus, heute das "Bodelschwinghhaus" bezogen. Bis 1936 konnte
diese kirchliche Einrichtung - sie hieß "Nieder-Ramstädter Anstalten"
und ab 1939 "Nieder Ramstädter Heime" - noch relativ eigenständig
wirtschaften. Im November 1936 besichtigten zwei Obermedizinalräte die
Anstalt. Ein Grund dafür wurde nicht genannt. Ein Jahr später, im
November 1937, griff das nationalsozialistische Regime sehr massiv in
das Anstaltsleben ein. Es ging um die Senkung des Pflegesatzes und um
maßgeblichen Einfluss im Vorstand.
Nach diesen
Maßnahmen wurde sehr schnell deutlich, dass eine Verlegung der "Pfleglinge" zu
befürchten war. Im Frühjahr 1938 erging die nationalsozialistische
Order an alle hessischen Fürsorgeverbände, "in den Nieder-Ramstädter
Anstalten untergebrachte Pfleglinge, 600 Epileptische und Pfleglinge,
vom 1. April bis 1. Mai zu verlegen". Am 1. April 1938 waren in den
Anstalten insgesamt 647 Menschen untergebracht. Im gleichen Jahr noch
wurden davon 250 in staatliche Einrichtungen, sog. Zwischenanstalten,
verlegt, 1939 noch einmal fast 300. Anschließend wurden diese Menschen
von dort in die Mordanstalten transportiert (siehe Euthanasie).
Nachweislich wurden mehr
als 450 Menschen aus der Einrichtung ermordet. Bis zum März 1939 wurden
244 selbstzahlende alte Menschen und chronisch Kranke aufgenommen. Mit
Kriegsbeginn wurde ein Teil der Einrichtungen für Krankenhäuser der
Stadt Darmstadt und für TBC-Kranke beschlagnahmt. Im Jahr 1941 wurde
Pfarrer Otto Schneider wegen des Vorwurfs, "Geisteskranke" dem
staatlichen Zugriff entzogen zu haben, in "Schutzhaft" genommen. Die
Gestapo in Darmstadt setzte den Leiter der Medizinalabteilung bei der
hessischen Landesregierung als Staatskommissar ein. Pfarrer Schneider
wurde aus der Haft der Gestapo entlassen und erhielt ein
Aufenthaltsverbot für das gesamte Heimgelände. 1944 erfolgen weitere
Beschlagnahmungen der Anstalt zugunsten des Stadtkrankenhauses
Darmstadt. Nach der Brandnacht am 11. September wurden auch ausgebombte
und verletzte Darmstädter Bürger aufgenommen. Im Jahr 1946 kehrte
Pfarrer Schneider aus Seeheim nach Nieder-Ramstadt in sein Amt zurück.
Sechzig
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf dem Gelände der
Nieder-Ramstädter Diakonie ein Mahnmal errichtet, das an die in der
Zeit des Nationalsozialismus deportierten und ermordeten Menschen
erinnert. Die Namen aller Verschleppten sind in Form der früheren
Transportlisten in einem Buch gebunden. Das Buch hat seinen Platz in
der auf dem Gelände liegenden Lazaruskirche. Die NRD befindet sich seit
einigen Jahren in einem Prozess der Regionalisierung ihrer Betreuungs-
und Beratungsangebote.
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