DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Euthanasie Das Wort Euthanasie - aus dem Griechischen - bedeutet "leichter Tod". Gemeint ist die Erleichterung des Endes eines mit Sicherheit und auf qualvolle Weise verlöschenden Menschenlebens. Eine gefährliche Verfälschung erfuhr der Begriff im Zusammenhang mit dem sogenannten Sozialdarwinismus und der um die Jahrhundertwende aufkommenden Eugenik bzw. Rassenlehre. 1920 veröffentlichten der Juraprofessor Karl Binding (4.6.1841 Frankfurt - 7.4.1920 Freiburg) und der Professor der Psychiatrie Alfred Erich Hoche (1.8.1865 Wildenhain bei Eilenburg - 16.5.1943 Baden-Baden) ihr Buch "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form". Darin wurden die menschenverachtenden Standarddefinitionen, wie sie später im nationalsozialistischen Gedankengut gebraucht wurden, wie z. B "Ballastexistenzen, Nebenmenschen, Defektmenschen, geistig Tote, leere Menschenhülsen" vorweggenommen.
Titelblatt von Binding und Hoche (2. Auflage, 1922)
Titelblatt von Binding und Hoche (2. Auflage, 1922) [4]

So heißt es bei Bindung/Hoche zum Beispiel:

" ... es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels- und Achtels-Kräfte".

Auch aus Darmstadt stammen zwei Wissenschaftler, die sich dem Rassegedanken verschrieben hatten. Es handelt sich zum einen um Ernst Ludwig Alfred Hegar (6.1.1830 Darmstadt - 5.8.1914 Oberried/Breisgau). Der Gynäkologe Hegar forderte in seiner 1894 erschienenen Schrift "Der Geschlechtstrieb. Eine social-medicinische Studie" eugenische Massnahmen, "um wenigstens den größten Schäden des heutigen Zustandes ein Ende zu machen, und die Entstehung gebrechlicher elender Menschen zu beschränken".

Der zweite Darmstädter ist der Arzt und Rasseforscher Dr. Arthur Wiessmann (21.8.1907 Darmstadt - ?), der 1932 in Giessen mit einer Arbeit "Ueber die Sterilisierung Minderwertiger in Deutschland" promovierte.

Titelblatt Dissertation Wiessmann (1932)
Titelblatt Dissertation Wiessmann (1932) [3]
Weitere Rassehygieniker bzw. in die Euthanasiemorde involvierte Mediziner/Krankenschwestern mit Darmstadt-Bezug waren: Hitler knüpfte in seinem 1925 erschienen Buch "Mein Kampf" an die Gedanken von Binding/Hoche an. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde die Durchsetzung des Rassegedankens auch gesetzlich normiert. Bereits seit 1932 gab es Vorarbeiten für ein Sterilisierungsgesetz. Erinnert sei beispielhaft nur an:
Euthanasie-Statistiken von 1936
Euthanasie-Statistiken von 1936 [12]
In der zweiten Jahreshälfte 1938 gingen in der "Kanzlei des Führers" zunehmend Bittschriften von Eltern ein, die für ihre Kinder den Gnadentod erbaten. Bei der "Kanzlei des Führers" wurde eine Tarnorganisation gebildet. Durch Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939 mussten missgebildete Kinder gemeldet werden. Sie wurden dann nach einer formellen Begutachtung in sogenannte Kinderfachabteilungen gebracht und dort durch Gift oder durch Verhungernlassen getötet. Im Oktober 1939 unterschrieb Hitler eine Tötungsermächtigung, deren Text auf privatem Briefpapier seiner Kanzlei niedergelegt und auf den 1. September rückdatiert war. Dieser Text - in dem von Gewährung des Gnadentodes die Rede ist - verschleierte von Anfang an, dass es nicht um Gnadentod, sondern um die "Ausmerzung" der arbeitsunfähigen und lästigen Kranken ging. In der Folgezeit wurden Mitarbeiter für die "Euthanasie"-Organisation, die später nach dem Sitz der Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, die Tarnbezeichnung "Aktion T4" erhielt, angeworben, wobei kein Zwang ausgeübt wurde, die Angeworbenen jedoch zur Geheimhaltung verpflichtet wurden. An die einzelnen Heilanstalten wurden Meldebogen verteilt. Als durchsickerte, um was es sich handelte, weigerten sich viele Anstalten, diese auszufüllen oder klassifizierten fast alle Kranken als arbeitsfähig.
Euthanasie-Erlass von 1939
Euthanasie-Erlass von 1939 [12]
Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, geißelte am 3. August 1941 in einer Predigt den staatlichen Krankenmord. Die systematische Ermordung von erwachsenen Geisteskranken durch Gas wurde daraufhin eingestellt. Nicht eingestellt wurde die Aussonderung und Vergasung der kranken KZ-Häftlinge im Rahmen der sogenannten "Aktion 14 f 13" und die Kinder-"Euthanasie", die ca. 5.000 Opfer forderte. Krankenmord ging danach in versteckter Form - durch Vergiften und Verhungernlassen - in bestimmten Heil- und Pflegeanstalten weiter.

Nach Schätzungen dürften 200.000 bis 300.000 Kinder und Erwachsenen, Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen ermordet worden sein.

Die deutsche Medizin benutzte die Leichen der Opfer zu Forschungszwecken. Mehr als die Hälfte der medizinischen Institute arbeitete mit der RAG (Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten) zusammen, die als Tarnorganisation in die systematischen Morde im Rahmen der "Aktion T4" einbezogen war. Bis in neuere Zeit wurden entsprechende Präparatsammlungen, so z.B. im Max-Planck-Institut in Frankfurt am Main, benutzt. Nach dem Krieg wurden nur wenige Beteiligte der "Aktion T4" von deutschen Gerichten verurteilt. Viele Akteure machten wieder Karriere.

Im Jahr 2015 referierte Götz Aly im Max Planck Institut für Molekulare Genetik in Berlin-Dahlem über "Gehirnforschung und Euthanasiemorde - Die Schwierigkeiten der Max Planck Gesellschaft, sich ihrer Vergangenheit zu stellen". Aly stellte dar, wie ihm Versuche, Einblick in Präparatsammlungen zu erhalten, noch 1982 energisch verwehrt wurden. Als auf der Veranstaltung die Archivleiterin des Instituts, die Alys Forschungen ermöglicht hatte, im Anschluss an das Referat um Wortmeldungen bat, gab es fünf oder sechs Wortmeldungen, aber keine einzige von einem Angehörigen des Max Planck Instituts.

Auch Bewohner der von der Inneren Mission betriebenen "Nieder-Ramstaedter-Heime" (heute: Nieder-Ramstädter Diakonie in Mühltal/Nieder-Ramstadt) wurden Opfer der Euthanasie, nachdem man sie zuvor ab 1938 in staatliche Heil- und Pflegeanstalten verlegt hatte, bevor sie in die Vernichtungsanstalt nach Hadamar verlegt wurden.

Bleibt die Frage nach einer "Entschädigung" der von Euthanasie-Maßnahmen überlebenden Menschen. Hierzu ein Zitat aus der Bundestagsdrucksache Nr. 17/8729 vom 27. Februar 2012 "Entschädigungsleistungen für "Euthanasie"-Geschädigte":

Am 27. Januar 2011 verabschiedete der Deutsche Bundestag einstimmig einen Antrag, der die Bundesregierung aufforderte, die monatlichen Leistungen für Zwangssterilisierte auf 291 Euro zu erhöhen und diese Leistungen erstmals auf die Opfer von "Euthanasie"-Maßnahmen auszuweiten. ...Der Deutsche Bundestag war nach Überzeugung der Fragesteller bei seiner Entscheidung vom 27. Januar 2011 vom Willen getragen, die bis dahin zu konstatierende Ungleichbehandlung von "Euthanasie"- Geschädigten zu beenden. Diese Ungleichbehandlung bestand darin, dass die Kinder der Ermordeten zwar eine Einmalzahlung erhalten konnten, wenn sie zum Zeitpunkt der Ermordung ihrer Eltern unter 21 bzw. 27 Jahre alt waren (§ 7 AKG-Härterichtlinien), vom Bezug monatlicher Leistungen jedoch ausgeschlossen blieben - im Gegensatz zu Zwangssterilisierten.

Die Opfer von Zwangssterilisierung in der NS-Zeit erhielten nach dem Erlass - VI A 4 - VV 5050 - B - 899/80 - des Bundesministeriums der Finanzen vom 3. Dezember 1980 eine einmalige Leistung in Höhe von 5 000 DM bzw. 2 556,46 Euro und nach § 6 Absatz 3 der AKG-Härterichtlinien vom 7. März 1988 laufende Leistungen in Höhe von zunächst 120 DM bzw. 61,36 Euro monatlich, danach ab dem 1. September 2014 100 Euro monatlich ab dem 1. Januar 2006 120 Euro monatlich ab dem 1. Januar 2011 291 Euro monatlich

"Euthanasie"-Geschädigte in der NS-Zeit erhielten nach § 2 Absatz 1 der AKG- Härterichtlinien vom 7. März 1988 eine einmalige Leistung in Höhe von 5 000 DM bzw. 2 556,46 Euro und nach § 5 der AKG-Härterichtlinien in der Neufassung vom 28. März 2011 laufende Leistungen in Höhe von 291,00 Euro monatlich.

13 816 Zwangssterilisierte und 333 "Euthanasie"-Geschädigte erhielten Einmalzahlungen.

9 604 Zwangssterilisierte und drei "Euthanasie"-Geschädigte erhielten monatliche Leistungen.

Und wie sieht es mit einem Denkmal, das an die menschenverachtenden Euthanasie-Verbrechen erinnert, aus? In der Bundestagsdrucksache 17/5493 vom 13.4.2011 "Gedenkort für die Opfer der NS-"Euthanasie"-Morde" heißt es unter anderem:

Derzeit befinden sich dort (in der Tiergartenstraße 4) eine in den Boden eingelassene Gedenktafel, eine nachträglich den Opfern der "Aktion T 4" gewidmete Plastik von Richard Serra und eine Informationstafel zur "Aktion T 4". Im Jahr 2008 erinnerte das mobile Mahnmal der "Grauen Busse" an die Transporte der Patienten und Patientinnen in die Tötungsanstalten, die mit grau gestrichenen Bussen durchgeführt wurden. . Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich in Ergänzung und unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen in den Ländern für die gemeinsam von Bund und Berlin zu verantwortende Aufwertung des bereits bestehenden Denkmals für die Opfer der "Euthanasie"-Morde sowie ihre angemessene Würdigung am historischen Standort der Planung und Organisation der "Aktion T 4" in der Tiergartenstraße 4 in Berlin einzusetzen und weitergehend über "Euthanasiemorde", Zwangssterilisation und anderen damit zusammenhängenden NS-Verbrechen zu informieren . .

Anfang September 2014 meldeten die Zeitungen, dass das Denkmal für die ermordeten Insassen von Heil- und Pflegeanstalten nahe der Berliner Philharmonie eingeweiht wurde.

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