DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Deserteure "Die Fahnenflucht ist, neben dem bewaffneten Widerstand, radikale Verweigerung. Sie ist der Widerstand des kleinen Mannes und einfachen Soldaten, ... " schreibt Gerhard Zwerenz (1925 - 2015) in seinem Buch "Soldaten sind Mörder" von 1988 (siehe Abbildung rechts). Der Deserteur sagt, am Krieg beteilige ich mich nicht, ich entziehe mich dem Töten und Morden.
Buchtitel von Gerhard Zwerenz (1988)
Buchtitel von Gerhard Zwerenz (1988)

Deserteure oder auch Fahnenflüchtige gab es in den Armeen vieler oder gar aller Länder. Und die Fahnenflucht ist auch überall strafbar.

Im Wehrstrafgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es:

§ 16 Fahnenflucht
(1) Wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihr fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Wehrdienst dauernd oder für die Zeit eines bewaffneten Einsatzes zu entziehen oder die Beendigung des Wehrdienstverhältnisses zu erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) Stellt sich der Täter innerhalb eines Monats und ist er bereit, der Verpflichtung zum Wehrdienst nachzukommen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren.

(4) ...

Im Nationalsozialismus galt die Fahnenflucht als das "gemeinste militärische Verbrechen" (Keitel). "Der Deserteur muss sterben" forderte Hitler in "Mein Kampf" und nach den §§ 69, 70 des Militärstrafgesetzbuches wurde er im Krieg mit dem Tode bestraft. Der Fahnenflüchtige galt als "Wehrmachtsschädling". Kriegsgerichte verhängten etwa 30.000 Todesurteile und ließen ca. 20.000 verurteilte Deserteure hinrichten.

Die nationalsozialistische Sichtweise endete nicht 1945. So muss daran erinnert werden, dass Militärrichter, die nach 1945 als Politiker in höchste Staatsämter aufstiegen, wie zum Beispiel der Ministerpräsident des Bundeslandes Baden-Württemberg, Hans Filbinger (CDU), an der Verhängung von Todesurteilen beteiligt war. Nicht nur das. Auch als dies bekannt wurde, verteidigte er sich mit den Worten "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein". Filbinger war nicht nur an einem Todesurteil, sondern nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 4.8.1978 an vier Todesurteilen beteiligt.

Zum 90. Geburtstag wollte der Oberbürgermeister der Stadt Freiburg, Dieter Salomon (Grüne) für Hans Filbinger eine Feier ausrichten, die erst nach erheblichen Protesten abgesagt wurde. Doch die Versuche, Filbinger, von 1934 bis 1937 Mitglied der Sturmabteilung der NSDAP und anschließend Parteimitglied, zu rehabilitieren, rissen nicht ab. Zum Tode Filbingers am 1. April 2007 erklärte Parteifreund und Ministerpräsident Günther Oettinger, Filbinger "war kein Nationalsozialist".

Diese längere Bezugnahme auf den Fall Filbinger unter dem Stichwort "Deserteure" soll exemplarisch verdeutlichen, wie lange sich nationalsozialistische Rechtsvorstellungen bis ins 21. Jahrhundert erhalten haben und nicht klar verurteilt wurden.

Nach 1945 galt selbstverständlich auch der Deserteur der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft als Verräter. Ihnen zu gedenken oder gar ihre Verurteilungen als Unrecht zu bezeichnen und aufzuheben, war für die politische Klasse undenkbar.

Erst ganz langsam deutete sich ein Umdenken an. Dies ist im Wesentlichen der "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e. V." und dessen Vorsitzenden Ludwig Baumann zu verdanken.

Im November 1995 fand auf Initiative der Grünen und Sozialdemokraten eine öffentliche Anhörung im Deutschen Bundestag zum Thema "Rehabilitierung, Entschädigung und Versorgung für die Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und 'Wehrkraftzersetzer' unter dem NS-Regime" statt.
Dort trat unter anderem auch der Darmstädter Jurist Otfried Keller als Sachverständiger auf.

Die Auffassung der CDU/CSU wird in einer Presseerklärung vom 2. Juni 1995 deutlich:
Presseerklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 1995
Presseerklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 1995
Mit Hilfe von Zeitungsüberschriften soll hier ein kleiner Einblick in die Diskussion um die Rehabilitierung von Opfern der Wehrmachtsjustiz gegeben werden:
Erst im Jahr 2009 reichten die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf ein, in dem es um die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile ging.

Aber auch das bundesrepublikanische Wehrstrafgesetzbuch fand Anwendung auf junge Soldaten, die zu spät merkten, dass Soldaten auch in einer Demokratie zum Töten, zum "Neutralisieren des Gegners", ja auch zum Morden fähig sein müssen. An dieser Stelle erinnern wir an die Rede des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Martin Niemöller, die er am 25. Januar 1959 in Kassel hielt und u. a. formulierte:

" ... Wir reden von der Wehrpflicht. Über die Wehrpflicht läßt sich streiten, denn das ist ein Problem, wie weit ein Staat das Recht hat, seine Bürger dazu zu zwingen, andere Leute zu töten. ... Aber jedenfalls, wir haben nun seit 150 Jahren den Zwang, daß jeder, der dazu nicht bereit ist, nun, wenn´s gnädig abgeht, im Frieden ins Gefängnis oder im 3. Reich ins Konzentrationslager oder im Krieg aber an die Wand geschickt und gestellt wird. ... Und darum ist heute die Ausildung zum Soldaten, die Ausbildung der Kommandos im Zweiten Weltkrieg, die Hohe Schule Berufsverbrecher. Mütter und Väter sollten wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen. Sie lassen ihn zum Verbrecher ausbilden".

Im Jahr 1987 wurde in Darmstadt ein Denkmal, das dem unbekannten Deserteur gewidmet ist, enthüllt. Inzwischen erinnern in vielen deutschen Städten Denkmale an die Deserteure.

Es gab auch Darmstädter Deserteure, im Nationalsozialismus und auch nach Gründung der Bundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland. Sie werden hier nach und nach publiziert.


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