Das Verhalten der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus und die Aufarbeitung dieses Kapitels nach 1945 ist beschämend.
Die Ärzte waren zu großen Teilen begeisterte Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie. Deren konservative Einstellungen und das "biologistische" Denken, die weit verbreitete "Rassenkunde", der weit verbreitete Antisemitismus und nicht zuletzt ein Denken, das den "Wert" eines Menschen an dessen Verwertbarkeit festmachte, begünstigte die Nähe zu den Nationalsozialisten. Dies zeigte sich bei der Mitgliedschaft in der NSDAP. Etwa 45 Prozent der Ärzte traten der Partei bei, 26 Prozent waren Mitglieder der SA, ca. 8 Prozent Mitglied der SS. Seit 1929 bereits existierte der "Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund" (NSDAeB), der im Oktober 1933 etwa 11.000 Mitglieder vorweisen konnte.
Über die Involvierung der deutschen Ärzteschaft kann hier nicht ausführlich berichtet werden. Wir verweisen auf den angefügten Quellenapparat.
Der 51. Ärztetag beschloss im Oktober 1948 die Unterstützung einer Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses, doch fand sich kein Arzt bereit, eine solche Dokumentation zu erstellen. Der damalige Privatdozent Dr. Alexander Mitscherlich und der Student Fred Mielke fanden sich schließlich bereit, die Dokumentation zu erstellen. Sie erschien 1949 mit dem Titel "Wissenschaft ohne Menschlichkeit", und 10.000 Exemplare wurden an die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern zur Verteilung an die Ärzteschaft versandt. Die Reaktion war gleich Null, keine Rezension, keine Leserzuschrift. Offenbar verschwand die Auflage im Keller der Ärzteorganisation. Im Jahr 1960 wurde das Buch im Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt am Main wieder aufgelegt unter dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit".
Es sei auch daran erinnert, dass die verfasste deutsche Ärzteschaft, die Bundesärztekammer, 14 Jahre von einem Vizepräsidenten und weitere fünf Jahre von einem Präsidenten geleitet wurde, der nicht nur Mitglied der NSDAP und der SS war, sondern z.B. vom Sommer 1942 an als Assistenzarzt in der Pflegeanstalt Schönbrunn bei Dachau, einem Behindertenheim, arbeitete. Es handelte sich um Dr. Hans Joachim Sewering (30.1.1916 - 18.6.2010). In dieser Einrichtung fielen über 300 behinderte Kinder dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer. Sewering beteuerte, nicht gewusst zu haben, was in der Anstalt geschah. Deutschland ehrte ihn mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern, der Freistaat Bayern verlieh ihm die Verfassungsmedaille in Gold und die Bundesärztekammer mit der Ehrenmitgliedschaft. Im Jahr 1993 forderte der US-Ärzteverband AMA den designierten Präsidenten des Weltärztebundes Sewering auf, auf sein Amt zu verzichten. Im Jahr 1994 erteilte das US-Justizministerium Sewering ein generelles Einreiseverbot. Die Deutschen Internisten ehrten ihn dennoch 2008 mit der höchsten Ehrung des Bundesverbandes Deutscher Internisten, der Günther-Budelmann-Medaille. Ungeachtet seiner Vergangenheit wurde anlässlich seines Todes im Jahr 2010 im Nachruf, abgedruckt im Deutschen Ärzteblatt, die NS-Vergangenheit nicht nur verschwiegen. Er habe sich auch "um die Wahrung ethischer Normen ärztlichen Handelns verdient gemacht" hieß es dort.
Es vergingen 50 Jahre, bis sich die organisierte deutsche Ärzteschaft mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus beschäftigte. So haben sich die deutschen Gynäkologen erst auf ihrem 50. Kongress 1994 zu ihrer Schuld bekannt und bei ihren Opfern - den über 200.000 Frauen, die von ihnen zwangsweise sterilisiert wurden - um Entschuldigung gebeten. Ein Großteil der Frauen lebte nicht mehr. Andere Fachrichtungen haben sich ähnlich verhalten. Im Jahr 2011 legte die Bundesärztekammer einen Forschungsbericht zum Thea "Medizin und Nationalsozialismus" vor. Die deutsche Zahnärzteschaft legte 2019 eine Untersuchung über "Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus" vor.
Wie sah es in Darmstadt aus?
Das Amtliche Adressbuch der Stadt Darmstadt des Jahres 1940 [17] führt für Darmstadt insgesamt 98 Ärzte auf, davon 38 Praktische Ärzte und 48 Fachärzte aller Fachrichtungen, je drei Ärzte in Arheilgen und Eberstadt sowie sechs von der Reichsärztekammer delegierte Ärzte. In Kliniken tätige Ärzte waren im Adressbuch nicht aufgeführt.
Eine Recherche in der Entnazifizierungskartei ergab, dass in Darmstadt (mit den Stadtteilen Arheilgen und Eberstadt) 207 Ärzte Mitglied der NSDAP und/oder der SA und der SS waren. Mitgliedschaften in anderen NS-Unterorganisationen wie NSDAeB oder NSDStB wurden hierbei nicht mitgezählt. Die Differenz zwischen den im Adressbuch genannten Ärzten und denen der Entnazifizierungskartei ergibt sich daraus, dass im Adressbuch nur die 1940 in Darmstadt tätigen Ärzte enthalten sind (ohne die Fluktuation) und in der Entnazifizierungskartei alle betroffenen Ärzte inkl. der Klinikärzte enthalten sind.