DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Giesselmann, Bernhard (5.8.1892 Hummelshain/Thüringen - ...) hat in der Entnazifizierungskartei folgenden Eintrag:

"Zuname Giesselmann, Vorname Bernhard; Stand Stadtrat a. D.; Geburtstag 5.8.1892; Konf. ev.; Wohnort Darmstadt; Geburtsort Hummelshain; Straße Weinbergstraße 53 (noch vermißt); ver.; Kriegsteilnehmer ja; Beschluß der Zentr. Spruchk. Hessen Fkftm v. 30.6.1952: Verfahren wird gem. § 3 des Ges. v. 30.1.1949 eingestellt."

Weitere Recherchen zeigten, dass im Stadtarchiv Darmstadt eine Kriegsopferentschädigungsakte vorlag. Nachfolgende Informationen/Zitate stammen aus dieser Entschädigungsakte. Die Informationen daraus stammen überwiegend von Giesselmann selbst.

Giesselmann war am 1. März 1930 der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 224 470 beigetreten und galt somit als "alter Kämpfer". In der Partei hatte er die Funktion eines "Kreisredners" und "Kreisschulungsredners".

Er ist am 15. August 1933 bei der Deutschen Erdöl-AG Oberbergdirektion Altenburg in Altenburg, wo er Leiter der Rechts- und Grundstücksabteilung seit dem 1. August 1920 war, ausgeschieden und zum Kommunaldienst übergetreten.

Im Herbst 1933 wurde er zum Beigeordneten der Stadt Altenburg gewählt.

Im Juli 1935 hatte ihn die NSDAP zum Stadtrat in Altenburg ernannt. Weiter hat er dem Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK), zuletzt als Truppenführer und der NSKV (muss wohl heißen NSKOV (Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung) als Kreisamtsleiter angehört. Zusätzlich war er Träger von Parteiauszeichnungen für 10 und 15-jährige Mitgliedschaft in der NSDAP.

Am 1. März 1941 wurde er "von dem Herrn Reichsminister des Innern in Berlin nach den besetzten polnischen Gebieten abgeordnet und vom 1.8.1941 als Stadtkommissar (Bürgermeister) der Stadt Przemyśl eingesetzt".

Im Internet findet sich hierzu folgendes Dokument (siehe Abbildung).

Ernennung Direktor 1937
Aushang 1942 [1]

In dieser Bekanntmachung wurde die "Abgrenzung des Judenviertels der Stadt Przemyśl" festgelegt. Weiter heißt es dort:

"Die Juden mit Aufenthaltsgenehmigung in Przemyśl sind verpflichtet, bis zum 15. Juli 1942 um 22:00 Uhr, eine Wohnung in dem oben genannten Viertel zu beziehen. Juden, die rechtswidrig das ihnen zugewiesenen Viertel verlassen, werden gemäß § 4b. der erwähnten Verordnung in der Fassung vom 15. Oktober 1941 (VBIGG. S. 595) bestraft. Eine ähnliche Strafe betrifft auch diejenigen, die wissentlich solchen Juden Zuflucht gewähren. Das oben genannte Viertel hat nur einen Eingang von der Viktoria-Straße (Jagiellońska-Straße) und der Lemberger-Straße, die anderen Eingänge werden geschlossen. Juden ist es erlaubt das jüdische Viertel zu verlassen, um zu ihrer Arbeitsstelle zu gehen. GIESSELMANN Stadtkommissar."

Giesselmann hat die Stadt Przemyśl bis zur Besetzung durch die Russen bis zum 23. Juli 1944 "verwaltet". Bis zum 18. Januar 1945 war er als stellvertretender Kreishauptmann in Neu Sandez (Polen) tätig.

Am 15. Februar 1945 hat er seinen Dienst als Stadtrat in Altenburg wieder angetreten, wo er bis zu seiner Verhaftung durch die amerikanische Besatzungsmacht am 12. Mai 1945 tätig war. Der Grund seiner Verhaftung war nach seinen eigenen Angaben seine Tätigkeit als Bürgermeister der Stadt Przemyśl.

Am 26. Februar 1947 wurde er von der amerikanischen Besatzungsmacht aus dem Interniertenlager Dachau an die polnische Gewahrsamsmacht ausgeliefert. In Dachau war er vom 12. Mai 1945 bis 26. Februar 1947 interniert.

Durch Urteile des Landgerichts der Stadt Przemyśl am 14. August 1948 und des Oberlandesgerichts in Rzeszow vom 12. Dezember 1949 wurde er zu einer Gesamtstrafe von 14 Jahren verurteilt. Die Gründe dieser Bestrafung sind nach seinen eigenen Angaben:

"a) 8 Jahre Gefängnis, weil er auf Befehl und Auftrag das in der Stadt Przemyśl gebildete Getto eingezäunt habe.

b) 8 Jahre Gefängnis, weil er zwei jüdische Ordner (Polizisten), welche in den ihm unterstellten jüdischen Werkstätten einen Diebstahl begünstigt hatten, bis zur Klärung der Angelegenheit in das Polizeigefängnis der Stadt eingeliefert habe.

c) 3 Jahre Gefängnis, weil er auf Befehl und Auftrag dem Arbeitsamt Przemyśl Unterlagen seines von ihm veralteten Einwohnermeldeamtes zur Erfassung der Arbeitslose von Przemyśl zur Verfügung gestellt habe.

d) 3 Jahre Gefängnis, weil er Angehöriger der NSDAP war.

Die gesamte Strafe von 14 Jahren hat der Antragsteller bis zum 15.5.1956 mit 11 Jahren verbüsst."

Bei Markus Roth heißt es zu Giesselmann:

"Außer den acht ehemaligen Kreis- bzw. Stadthauptleuten wurden nur sehr wenige Personen aus den Reihen der Zivilverwaltung auf Kreisebene an Polen ausgeliefert. Aus der relativ großen Gruppe der Land- und Stadtkommissare musste sich lediglich Bernhard Giesselmann, ehemals Stadtkommissar in Przemyśl, vor einem polnischen Gericht verantworten. Er wurde 1948 zu zehn Jahren, in der Berufung 1950 zu 14 Jahren Haft verurteilt, jedoch nach einer Amnestie bereits im Mai 1956 entlassen."

Giesselmann zog nach Darmstadt, wo bereits seine Ehefrau Theodora in der Weinbergstraße 53 wohnte. Danach lautete die Adresse Hoffmanstraße 7.

Hierdurch erklärt sich wohl auch der Beschluss der Zentralspruchkammer Hessen, die das Entnazifizierungsverfahren am 30. Juni 1952 einstellte, "da die Voraussetzung für eine Einweisung in die Gruppe 1 oder 2 nicht vorliegen."

Giesselmann stellte am 6. Juni 1956 einen "Antrag auf Gewährung einer Entschädigung nach § 3 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes".

In einem Aktenvermerk ist festgehalten, dass der "Ehefrau bis zur Rückkehr des Antragstellers die Gebührnisse aus seinem Beamtenverhältnis gezahlt" wurden. Übersetzt heißt das wohl, dass seine Ehefrau offenbar Zahlungen für seine Funktion in der NS-Zeit als Stadtrat und hauptamtlicher Beigeordneter und eventuell sogar für seine Funktion im besetzten Polen als Stadtkommissar (Bürgermeister) der Stadt Przemyśl erhalten hat.

Hervorzuheben ist auch, dass Giesselmann im offiziellen Schriftverkehr mit der Stadt Darmstadt jeweils seinen Titel "Stadtrat a. D." führte.

Da die Prüfung seines Antrages nicht in der von ihm gewünschten Schnelligkeit erfolgte, beschwerte sich sein Schiegersohn, ein Oberingenieur, bei dem Hessischen Innenminister. Auch hatte er beim Magistrat der Stadt Darmstadt am 26. Februar 1957 in dieser Angelegenheit ein Gespräch, worauf ihm Stadtrechtsrat Dr. Holtzmann, auch ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, am 1. März 1957 mit hochachtungsvollen Grüßen antwortete: "Ich werde die Angelegenheit weiter im Auge behalten und versuchen, sie so schnell wie möglich zum Abschluß zu bringen".

In einem weiteren internen Schreiben von Dr. Holtzmann vom 16. April 1957 heißt es: "Man wird nach all dem für die weitere Bearbeitung davon ausgehen müssen, daß andere als die von Herrn Giesselmann geschilderten Vorgänge seiner Verurteilung nicht zu Grunde gelegen haben. Ihre Anfrage, ob das Verhalten des Herrn Giesselmann auch nach deutschem Strafrecht hätte geahndet werden können, ist deshalb zu verneinen."

Uns so folgte am 23. April 1957 ein erster Bescheid über DM 6.000.

Doch Herr Giesselmann entdeckte in diesem Bescheid einen Fehler, worauf er am 20. Mai 1957 Beschwerde einlegte.

In einem Vermerk vom 11. April 1958 wird auf Widersprüche zwischen Giesselmanns Ausführungen und dem Urteil des Berufungsgerichts hingewiesen. Während er "nur die Einzäunung des Ghettos veranlasst haben will, heißt es im Urteil, er habe sich an einer dreimaligen Aktion des Abtransports der jüdischen Bevölkerung aus diesem Stadtteil in das Vernichtungslager beteiligt. Nach dem Urteil sollen die zwei jüdischen Ordner, die er wegen der Begünstigung eines Diebstahls `bis zur Klärung der Angelegenheit` in das Polizeigefängnis eingeliefert haben will, bei den sogenannten Gefängnisaktionen getötet worden sein." Zum Schluss wird erneut festgehalten: "Nach all dem geht aus dem Urteil nicht mit Sicherheit hervor, dass das Giesselmann zur Last gelegte Verhalten auch bei der Anwendung des deutschen Strafrechts zu seiner Verurteilung geführt hätte."

Seine Beschwerde war erfolgreich: Mit neuem Bescheid wurden ihm weitere DM 1.680,-- und in einem weiteren Bescheid noch mal DM 720,--überwiesen.

Auch in der Stadt Przemyśl in Ostpolen verübten Einsatzgruppen der Nazis Massaker an der jüdischen Bevölkerung.

Auch im Jahr 1956 hatte man gewusst, dass ein Ziel des nationalsozialistischen Krieges die Vernichtung der Juden war. Aber man wollte es nicht wissen und die Täter von damals wurde üppig entschädigt durch Entscheidungen ehemaliger Nationalsozialisten, die wieder an entscheidender Stelle saßen.

Hätte dieser "Fall" zwanzig Jahre später zur Entscheidung angestanden, wäre Giesselmann vermutlich juristisch anders behandelt worden. Drei Beispiele:

1. So wurde 2011 erstmals ein nichtdeutscher Wachmann eines NS-Todeslagers verurteilt - und das zudem ohne konkreten Tatnachweis. Der Münchner Richterspruch ist aber nicht rechtskräftig, denn Verteidigung und Staatsanwaltschaft legten Revision ein. Am 17. März 2012 starb Demjanjuk.

2. Im Jahr 2014 wurde der frühere SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Der später auch "Buchhalter von Auschwitz" genannte Gröning hatte gestanden, Geld von Verschleppten gezählt und zur SS nach Berlin weitergeleitet zu haben. Er sagte aus, zwei- bis dreimal vertretungsweise Dienst an der Rampe getan zu haben, um dort Gepäck zu bewachen.

3. Im Jahr 2022 wurde die ehemalige Sekretärin im NS-KZ Stutthof wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen schuldig gesprochen. Zwischen Juni 1943 und April 1945 war sie Stenotypistin in der Lagerkommandatur gewesen. Nach Überzeugung des Gerichts habe sie "willentlich unterstützt, dass Gefangene durch Vergasungen, durch lebensfeindliche Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche" grausam getötet wurden. Wichtig ist: Ihr war nicht vorgeworfen worden, dass sie selbst gemordet habe - nicht, dass sie etwa selbst auf Menschen geschossen oder die Gaskammern im Lager bedient habe. Aber: Sie soll zu den Schreckenstaten im KZ Hilfe geleistet haben. In der Pressemitteilung des Landgerichts heißt es dazu: "Die Förderung dieser Taten durch die Angeklagte erfolgte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur. Diese Tätigkeit war für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig." Zum damaligen Zeitpunkt war die Angeklagte 18 bzw. 19 Jahre alt.


Q: [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8], Abbildung: [1]

 

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