DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Plagge, Karl
Karl Plagge
Karl Plagge
(10. Juli 1897 Darmstadt - 19. Juni 1957 Darmstadt) war deutscher Wehrmachtsoffizier, der während des Zweiten Weltkrieges etwa 250 ihm zugewiesene jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus bewahrte.

Der als Sohn eines Arztes geborene Plagge besuchte bis zu seinem Abitur 1916 das Ludwig-Georgs-Gymnasium. Anschließend wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Eingesetzt wurde er in Frankreich und Belgien und geriet 1917 bis 1920 in englische Kriegsgefangenschaft.

Daran schloss sich bis 1924 ein Maschinenbaustudium mit dem Schwerpunkt Chemische Technologie an der heutigen Technischen Universität in Darmstadt an.

Er war 1932 in die NSDAP eingetreten, weil er ihren sozialen Versprechungen Glauben schenkte. Plagge hatte die Hoffnung auf eine allgemeine Wirtschaftsbelebung. Auch habe er damals den Friedensbeteuerungen Hitlers geglaubt.

Im Jahr 1932 eröffnete er ein chemisch-medizinisches Untersuchungslabor im Hause seiner Mutter in der Hoffmannstraße 22 - der Vater war bereits 1904 gestorben.

Doch kam Plagge bald nach Hitlers Machtübernahme "in inneren Gegensatz zu manchen Maßnahmen der Partei". Er habe gehofft, dass es sich um "Übergangszustände" handeln würde. Daher übernahm er 1935 auf Drängen des Ortsgruppenleiters das Amt eines Blockleiters, das er nach wenigen Wochen jedoch wieder aufgab, "da es mir nicht passte".

Da sein Untersuchungslabor schlecht lief, arbeitete er ab 1934 bei den Hessenwerken in der Siedlung Tann, zunächst als technischer Berater, später als Projekt- und Entwicklungsingenieur.

1936 wurde er aufgefordert, die ehrenamtliche Leitung der Volksbildungsstätte der Deutschen Arbeitsfront (NS Gemeinschaft Kraft durch Freude) zu übernehmen, die er nach langem Zögern annahm. Doch gab es bald wegen unterschiedlicher weltanschaulicher Auffassungen Konflikte, die zu seiner Ablösung führten und 1938 zum Rückzug von jeglichen Parteiaktivitäten.

Zum Kriegsbeginn 1939 wurde Plagge zur Wehrmacht eingezogen, zunächst in Darmstadt als Standortoffizier. Als Soldat nahm er die Möglichkeit wahr, seine Parteimitgliedschaft auszusetzen, "umso mehr als ich nun in eine klare Gegnerschaft gegenüber den nationalsozialistischen Gewaltmethoden getreten war".

Da er wegen eines körperlichen Gebrechens nicht fronttauglich war, wurde er im Juni 1941 nach Wilna, dem heutigen Vilnius (Litauen) geschickt, um dort einen Heereskraftfahrzeugpark (HKP 562) zu leiten. Dort unterstanden ihm 250 Wehrmachtsangehörige und polnische Zivil- und jüdische Zwangsarbeiter.

In Wilna war im September 1941 ein Ghetto eingerichtet worden, in das fast 40.000 jüdische Menschen getrieben wurden, das jedoch nach wenigen Wochen wieder aufgelöst wurde. In dieser Zeit waren die "nicht produktiven" Gefangenen ermordet, die "arbeitsfähigen" in ein großes Ghetto zur Zwangsarbeit umgesiedelt worden.

Den Erschießungsgruben in den Wäldern und den Deportationen in die Vernichtungslager konnten Juden nur durch Arbeitsbescheinigungen entkommen. Mit seinem entscheidenden Hinweis, dass er ohne jüdische Arbeiter den Wagenpark nicht aufrechterhalten könne, rettete er zwischen 1941 und 1944 vielen Juden das Leben.

Am 1. Juli 1944, als die deutsche Armee vor den nahenden russischen  Truppen den Rückzug antrat und deshalb auch der Heereskraftfahrzeugpark 562 nach Westen verlagert werden sollte, trat Plagge vor die Arbeiter und warnte sie. Die SS, die er verklausuliert als eine „Organisation, die Flüchtlingen Schutz bietet“ bezeichnete, werde sich um die Gefangenen kümmern. Diese Warnung veranlasste etliche Juden zur Flucht und rettete rund 250 Menschen das Leben.

Der Historiker Wolfram Wette [23]  wies 2005 daraufhin, dass "Plagge nicht in der Form einer einmaligen, spontanen Aktion half, sondern gleichsam „mit langem Atem“, also überlegt, kühl kalkulierend, ausdauernd, über Jahre hinweg, nicht immer erfolgreich, aber doch vielfach". Dabei habe er das Risiko nicht überdehnt, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten geschickt und klug agiert. Als Kommandeur des Heeres-Kraftfahr-Parks (HKP) 562 in Wilna, einer großen Reparaturwerkstätte für Radfahrzeuge und anderes Gerät der Wehrmacht, habe er darauf hingewirkt, dass in seiner Dienststelle vorrangig jüdische Arbeitskräfte beschäftigt wurden. Er habe auch solche Juden eingestellt und sie damit geschützt, die von der Kraftfahrzeugreparatur eigentlich gar nichts verstanden. Mit dem Argument, dass nur gesunde und kräftige Menschen erfolgreich für die Wehrmacht arbeiten könnten, sorgte er auch für deren gute Verpflegung und medizinische Versorgung.
Seine humanen Absichten habe Plagge selbst noch bei jenem Schlussappell am 1. Juli 1944 verschleiern müssen, als er sie darüber informierte, dass "die Rote Armee kurz vor Wilna stand, die Wehrmacht dabei war, nach Westen abzurücken und dass das Reparaturlager des HKP mit seinen etwa 350 Beschäftigten nunmehr von der SS übernommen werde. Plagge formulierte verschlüsselt: „Sie wissen alle genau, wie sorgfältig die SS ist beim Schutz ihrer jüdischen Gefangenen“. Diese Warnung sei verstanden worden und führte dazu, dass sich wenigstens ein Teil der von der Erschießung Bedrohten in Verstecke retten konnte.
Nach dem Krieg kehrte Plagge nach kurzer Gefangenschaft zunächst nach Neunkirchen/Odw. - sein Elternhaus war im Krieg zerstört worden - und 1948 nach Darmstadt zurück. Er wohnte in der Otto-Hesse-Straße 4 und nahm seine Arbeit bei der Hessenwerke GmbH in der Siedlung Tann wieder auf, bei der er bereits 1934 eine leitende Stellung bekleidete. Diese Tätigkeit musste er jedoch wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft während des Entnazifizierungsverfahrens vorübergehend wieder verlassen.

Der Spruchkammer legte er einen ausführlichen "politischen Lebenslauf" vor. Nach Anhörung zahlreicher Zeugen endete das Verfahren 1948 mit Zustimmung Plagges mit der Einstufung als "Mitläufer". Dafür war nicht nur seine bezeugte Abkehr vom Nationalsozialismus vor Kriegsbeginn, sondern auch Aussagen von jüdischen Darmstädter Freunden aus der Zeit vor dem Krieg, wie auch Aussagen Überlebender aus dem Reparaturbetrieb und Arbeitslager in Wilna maßgebend.

Er starb einsam und krank im Juni 1957 in Darmstadt.

Major Plagge war einer von lediglich knapp 100 Wehrmachtsangehörigen, die Juden halfen und Menschenleben retteten. Zu mehr Humanität reichte es nicht - bei Millionen deutscher Soldaten, Majoren und Generälen.

Danach geriet Plagge in Vergessenheit. Im Nachkriegsdeutschland BRD hatten viele ehemalige Nationalsozialisten in der Justiz, dem Gesundheitswesen, der Politik und der Wirtschaft wieder hohe und höchste Positionen eingenommen. Es herrschte zwischen Ost und West der bekannte "Kalte Krieg" und Widerstandskämpfer galten vielen bis in die 1980er Jahre als Verräter.

Nicht Politiker, sondern erst Überlebende und deren Angehörige sorgten für eine neue und aktive Erinnerungskultur. Und so kehrte Dank ihrer Aktivitäten auch Plagge wieder in das öffentliche Bewusstsein, auch in Darmstadt, zurück.

Endlich war Darmstadt nicht nur die Stadt, aus der Täter wie Werner Best, Karl Wolff, Robert Mohr, Bruno Böhm, Fritz Katzmann und viele andere kamen, sondern konnte auch einen Helfer präsentieren.

Nach einem ersten Besuch von Pearl, William, Susan und Michael Good sowie Bill Begell - Gerettete und deren Angehörige - in Darmstadt im Jahr 2002 ehrte der Senat der Technischen Universität auf Vorschlag der Historikerin Marianne Viefhaus den ehemaligen Studenten Plagge 2003 mit einer Erinnerungstafel im ersten Stock des alten Hauptgebäudes der TU Darmstadt.

Am 22. Juli 2004 beschloss die zuständige Kommission von Yad Vashem Karl Plagge als „Gerechter unter den Völkern“ zu ehren, weil er während des Zweiten Weltkriegs unter Lebensgefahr Juden Hilfe geleistet hat.

Am 15. April 2005 ehrte die Stadt Darmstadt und die Technische Universität Karl Plagge mit einer großen Gedenkveranstaltung in der Centralstation.

Ebenfalls seit April 2005 weist ein Messingschild auf seinem Grab auf dem Alten Darmstädter Friedhof  [Standort: 2 Mauer 26, Abteilung II, J 9. Grab an der Westseite der Mauer vom Haupteingang im Norden aus gesehen, Familie Karl von Berthold], auf seine vorbildliche Haltung hin:

Gewidmet
K a r l  P l a g g e
1897-1957
In Dankbarkeit für sein menschliches Verhalten in unmenschlicher Zeit und in der Hoffnung, dass
sein Beispiel für die nachfolgenden Generationen
wegweisend bleibt.

Die überlebenden Juden des HKP-Lagers in Wilna
1941-1944

April 2005
Gedenktafel am Grab
Gedenktafel am Grab auf dem Alten Friedhof (2012)

Plagges Grab in Darmstadt (2012)
Plagges Grab auf dem Alten Friedhof in Darmstadt (2012)


Plagges Grab in Darmstadt (2012)
Wandtafel an Plagges Grab auf dem Alten Friedhof in Darmstadt (2012)

Außer der oben erwähnten Gedenktafel in der TU Darmstadt gibt es in Darmstadt folgende Stätten der Erinnerung an Plagge:

Im Ludwigs-Georgs-Gymnasium (LGG) in Darmstadt erinnert eine Büste mit Gedenkplatte an Karl Plagge
.

Am 10. Februar 2006 wurde die Frankenstein-Kaserne in "Major-Karl-Plagge-Kaserne" umbenannt.

Dort erinnert eine Gedenkplatte mit Büste an Plagge.

Das "Karl Plagge-Haus", ein Neubau der Technischen Universität Darmstadt aus dem Jahr 2017 in der Alexanderstraße 2, erinnert ebenfalls an ihn.

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Fotos des Grabes: Autoren

 

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