Was war geschehen?
Reichsweit berichteten die Presseorgane am 8. November 1938:
oder
Das Attentat des 17-jährigen Jungen Herschel Grünspan auf den NS-Diplomaten Ernst vom Rath aus Protest gegen die Abschiebung tausender polnischer Juden nutzte Progagandaminister Goebbels, um in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 im gesamten Reichsgebiet Ausschreitungen gegen jüdische Kulturstätten, Friedhöfe, Wohn- und Geschäftshäuser zu organisieren. Es sollte als spontane Antwort der Bevölkerung auf den Anschlag dargestellt werden.
Die Pogrome wurden durch eine Hetzrede von Goebbels anlässlich des alljährlichen Treffens der höheren NSDAP-Führer in München in Erinnerung an den Putsch von 1923 in München ausgelöst.
Diese Pogromnacht war zentral vorbereitet. In einer Anweisung zum Ablauf der Aktionen gegen Juden hieß es:
Es wurden beinahe alle Synagogen und mehr als 7.000 Geschäfte, darunter 29 Warenhäuser, zerstört. Im Verlaufe des Pogroms fanden 91 Menschen den Tod. An den Zerstörungen und Plünderungen beteiligten sich u. a. die HJ, die SA und andere NS-Organisation. Den angerichteten materiellen Schaden mussten die deutschen Juden selbst tragen. Außerdem wurde ihnen eine kollektive Sondersteuer in Höhe von 1 Mrd. RM auferlegt. Mehr als 30.000 Juden wurden verhaftet und zeitweilig in Konzentrationslager verschleppt. Viele von ihnen kamen dabei um, andere wurden zum Verzicht auf ihr Eigentum gezwungen. Viele kamen erst nach der Bereitschaft zur Auswanderung frei.
In der Literatur gibt es unterschiedliche Angaben über die Zahl der Opfer. Die Angabe in der "Enzyklopädie des Nationalsozialismus" mit 91 Opfern im ganzen Reich erscheint viel zu niedrig. Andere Forschungen gehen von bis zu 400 Todesopfern aus.
Mit diesen organisierten Pogromen und den nachfolgenden Maßnahmen trat der Antisemitismus des nationalsozialistischen Staates in eine neue Phase ein, in der unter gänzlichem Verzicht auf rechtsförmige Begründung direkte Aktionen zur Verdrängung und schließlich zur Vernichtung des jüdischen Bevölkerungsteils eingeleitet wurden.
Um die Stimmung zusätzlich anzuheizen, wurde auch von umfangreichen Waffenfunden bei Berliner Juden berichtet.
Am 11. November 1938 berichtete das Darmstädter Tagblatt in dem Artikel "Die Antwort auf das Attentat":
Auf Seite 2 hieß es:
Auch die Synagoge in Eberstadt wurde in Brand gesetzt. Der organisierte Pogrom führte auch zu Verwüstungen von Geschäften und Angriffe und Misshandlungen jüdischer Bürger, die auch zum Tode führten.
Die herbeigerufene Feuerwehr schützte die Nachbargebäude vor dem Übergreifen des Feuers, löschte aber nicht die Brände.
Allein in Darmstadt starben im Zusammenhang mit dem Judenpogrom am 9. November 1938 vier Menschen. So beging
Ferdinand Reinheimer aus Eberstadt, für den ein Stolperstein in der
Pfungstädter Straße verlegt wurde, Selbstmord.
In Arheilgen starben in Folge von Misshandlungen Aron Reinhard, seine Tochter Johanna Reinhard
(siehe Karl Grein) und
Heinrich Wechsler.
169 Juden aus Darmstadt wurden in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert und "nach einigen Wochen mit der Auflage zur Emigration entlassen".
Brigadeführer Lucke berichtete am 11. November 1938 an die vorgesetzte Dienststelle seine "Erfolge":
Insgesamt standen wegen der Pogrome in Arheilgen sieben Angeklagte vor Gericht, von denen jedoch nur drei (Gärtner, Wannemacher und Wesp) verurteilt wurden.
An den Pogromen in Eberstadt waren Philipp Doll, Heinrich Dörr, Ludwig Hofmann, Heinrich Kölsch, Fritz Kredel, Fritz Marquardt und Georg Schambach beteiligt.
In Darmstadt beteiligten sich an dem Pogrom vor allen:
-Heinrich Kissinger, SA-Obersturmführer
-Karl Lucke, SA-Brigadeführer
-Wilhelm Mahla, SA-Standartenführer.
Es waren aber auch "rangniedrigere" Faschisten beteiligt, wie zum Beispiel:
Ad. Walther stellte nach den Ermittlungen das Benzin für die Brandstiftungen zur Verfügung. Er war der Inhaber der Großgarage und Tankstelle in der Grafenstraße 6 und hatte die Vertretung der Allgemeinen Ölhandelsgesellschaft m. b. H.
Wilhelm Bauer, seit 1936 Mitglied der SS, seit Ende 1938 Mitglied der NSDAP, beteiligte sich an der Zerstörung des Spielwarenladens Ullmann in der Elisabethenstraße."Zwar war ihm bei der Sache nicht ganz wohl, dennoch tat er bei den Zerstörungen nach Leibeskräften mit". Er wurde zu einem Jahr Gefängnis unter Anrechnung der gesamten Untersuchungshaft verurteilt.
Hans Benn, Sekretär, geboren 27.6.1904 in Darmstadt, wohnhaft 1946 in Dornheim, 1931 NSDAP, angeklagt wegen schweren Landfriedensbruchs, Beteiligung an den Judenverfolgungen und der Zerstörung der Synagogen in Darmstadt in der Reichspogromnacht, wurde zu 18 Monaten Haft unter Anrechnung der Untersuchungshaft verurteilt und 184 Tage Strafrest erlassen. Gegen Benn wurde am 1. Februar 1949 durch die Spruchkammer zwei Jahre Arbeitslager verhängt.
Johann Berlieb, geboren 19.7.1880 in Erbach/Odw., wohnhaft in Darmstadt, Gastwirt, Weißbinder, SA 31.5.1933, SA-Mann, 6.10.1933 Sturmmann, 31.12.1933 Rottenführer, 6.11.1934 Scharführer, 9.11.1936 Oberscharführer, 30.1.1939 Truppführer. NSDAP 1936. Er zündete in der Eberstädter Synagoge die Bänke an, in der Synagoge Friedrichstraße zündete er die Möbel an, die sein Sohn zuvor mit Benzin übergossen hatte. Berlieb und Kraft zerstörten die Inneneinrichtung der Synagoge in Gräfenhausen. Berlieb wurde wegen Brandstiftung und schweren Landfriedensbruchs zu vier Jahren Haft verurteilt.
Philipp Doll, geboren am 11.12.1900 in Darmstadt-Eberstadt, wohnhaft in Darmstadt, Arbeiter, Eintritt in NSDAP und SA 1.4.1930, Scharführer, angeklagt wegen Beteiligung an den Pogromen in Eberstadt, er sei nur als Neugieriger mitgelaufen und habe sich an den Plünderungen nicht beteiligt und wurde daher freigesprochen.
Heinrich Dörr, geboren am 5.3.1890 in Darmstadt, wohnhaft in Darmstadt-Eberstadt, Hilfsarbeiter, angeklagt wegen Beteiligung an den Pogromen in Eberstadt, wurde wegen Landfriedensbruch zu einem Jahr Haft verurteilt.
Heinrich Gärtner, Landwirt, geboren am 29.6.1891, Arheilgen, NSDAP-Mitglied, SA-Mitglied seit 1932, musste sich wegen der Judenpogrome in Arheilgen gemeinsam mit dem Angeklagten Wannemacher verantworten. Von den sieben Angeklagten waren sie im wesentlichen, wenn auch zögernd, geständig" und wurden zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Untersuchungshaft von 15 Wochen wurde wegen Geständnis angerechnet.
Ludwig Hofmann, nach Feststellungen des Gerichts war er bei den Zerstörungen in Eberstadt ein "Kumpan" von Fritz Kredel und wurde zu 1½ Jahren Haft verurteilt.
Wilhelm Hoffmann, Bademeister, geboren 25.5.1891 in Ratibor Krs. Oppeln, wohnhaft in Darmstadt, 1934 SA, Sturmmann 1936, 1937 NSDAP. Er wurde wegen Beihilfe zur Brandstiftung zu 10 Monaten Haft verurteilt.
Heinrich Adam Kölsch, geboren 2.8.1902 in Darmstadt-Eberstadt, Landwirt, wurde wegen Beteiligung an den Judenpogromen am 10.11.1938 in Darmstadt-Eberstadt angeklagt und zu einem halben Jahr Haft verurteilt.
Friedrich Georg Kraft, Zimmermann, geboren 20.7.1890 in Groß-Gerau, 1933 SA, 1937 NSDAP, angeklagt wegen Landfriedensbruch (Pogrom 1938), verhaftet zusammen mit Wilhelm Hoffmann, Georg Kissinger, Heinrich Kratz und Georg Volz. Kraft und Berlieb zerstörte die Inneneinrichtung der Synagoge in Gräfenhausen. Kraft wurde zu fünf Monaten Haft verurteilt.
Heinrich Kratz, Installationsmeister, geboren 15.10.1904 in Goddelau, sei nachts geweckt worden mit der Weisung, die Gashähne zu den beiden Synagogen (Bleichstraße und Fuchsstraße) abzudrehen. Danach sei er wieder nach Hause gegangen. Er wurde wegen Brandstiftung (Pogrome 1938) zusammen mit Heinrich Kissinger, Wilhelm Hoffmann und Georg Volz verhaftet. Er war am 1.11.1933 der SA und 1937 der NSDAP beigetreten. Kratz wurde freigesprochen.
Fritz Kredel, geboren am 21.4.1912 in Darmstadt-Eberstadt, dort auch wohnhaft, Schmied, SA 1.11.1929, Obertruppführer 9.11.1938. Kredel, so die Anklage, sei als Rädelsführer bei diesen Aktionen in Eberstadt anzusehen. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Im Jahr der Eingemeindung Eberstadts (1937) war Kredel auch Gemeinderat in Eberstadt.
Fritz Marquard, geboren am 13.1.1899 in Darmstadt-Eberstadt, auch dort wohnhaft, Installateur, SA 1.11.1933, Entlassung aus der SA 3.9.1936, NSDAP-Ortsgruppenleiter in Eberstadt und Beigeordneter der bis 1937 selbständigen Gemeinde Eberstadt. Unter seiner Aufsicht sei in die Wohnungen der Juden eingedrungen worden, wo geplündert, zerstört und die Bewohner auch misshandelt worden seien.
Karl Rühl, geboren am 11.8.1891 in Darmstadt, Verwaltungsangestellter, Parteieintritt 1931, der zusammen mit Hans Benn verhaftet wurde, erhielt wegen Landfriedensbruch eine Strafe von 4 Monaten Haft, wovon der Strafrest von 30 Tagen erlassen wurde.
Georg Schambach, geboren am 4.2.1908 in Darmstadt-Eberstadt, Malermeister, NSDAP 1931, SA 1933, auch angeklagt wegen Beteiligung an den Pogromen in Eberstadt, wurde zu einem Jahr Haft verurteilt.
Adolf Schneider, Kaufmann, geboren am 29.5.1880 in Darmstadt, Parteieintritt 1930, war zusammen mit Hans Benn verhaftet worden und wurde zu 5 Monaten Haft wegen Landfriedensbruch verurteilt, wovon 71 Tage Strafrest erlassen wurden.
Georg Adam Volz, Schlosser, geboren am 15.8.1903 in Darmstadt, 1933 SA, 1938 NSDAP. Volz wurde wegen versuchter Brandstiftung zu 10 Monaten Haft verurteilt. Volz war dadurch beteiligt, dass er auf Befehl Kissingers eine Gießkanne voll Benzin besorgte und diese vor die Synagoge Bleichstraße brachte.
Heinrich, Wannemacher, geboren am 24.8.1911, Landwirt in Arheilgen, NSDAP, SA 1934, Blockleiter, musste sich wegen der Judenpogromen in Arheilgen verantworten. Von den 7 Angeklagten waren er und Gärtner im wesentlichen, wenn auch zögernd, geständig", und wurden zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Untersuchungshaft von 15 Wochen wurde wegen Geständnis angerechnet.
J. Wesp, geboren am 13.2.1912, Waldarbeiter, Arheilgen, NSDAP, SA 1932, musste sich wegen der Judenpogrome (Landfriedensbruch) in Arheilgen verantworten. Er wurde zu 1 Jahr Haft verurteilt.
Die Synagogen-Grundstücke wurden 1940 an die Stadt zu einem lächerlich geringen Kaufpreis verkauft. An den ehemaligen Standorten der Synagogen befinden sich heute Gedenktafeln und der Erinnerungsort für die ehemalige Liberale Synagoge (siehe u.a. Julius-Landsberger-Platz).
In der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule erinnert ein Gedenkstein an die Ereignisse.