DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"
Ergänzung zum Stichwort
"Kleukens, Christian Heinrich"
Gründe der Autoren, die geforderten Änderungen im Stichwort über Christian Heinrich Kleukens abzulehnen:
Mit Schreiben vom 23. Juni 2020 erhielten die Autoren von einer Darmstädter Anwaltskanzlei ein Schreiben, in dem
die Anwälte im Auftrag von zwei Enkelinnen des Prof. Kleukens forderten, "die getätigten Veröffentlichungen zu
diesem Thema wieder zurückzuziehen und von der Homepage zu entfernen, bzw. die Behauptung, dass Prof. Kleukens ein
Nationalsozialist war, öffentlich zu widerrufen oder zumindest eine öffentliche Gegendarstellung der Enkelinnen
zuzulassen". Den Enkelinnen ginge es darum, das Ansehen ihres Großvaters wieder in das richtige Bild zu rücken.
Kleukens sei vom Mainzer NSDAP-Oberbürgermeister gedrängt worden, einem nationalen Verband beizutreten. Andernfalls
hätte er an der "Welt-Goethe-Ausgabe", die er als sein Lebenswerk betrachtet habe, nicht weiterarbeiten können. Auch sei er lediglich aus Zwang dem "Bund der Frontsoldaten" beigetreten. Auch sei ihr Großvater automatisch ein Mitglied der SA und der NSDAP geworden. Auch sei er ehrenhalber zum SA-Sturmführer der Reserve und ehrenhalber zum SA-Obersturmführer der Reserve befördert worden. Diese Ehrungen seien ihrem Großvater, so die Enkelinnen, aufgezwungen worden und er sich nur aus Furcht einer Existenzgefährdung nicht gewehrt habe.
Nach nochmaliger Prüfung haben die Autoren der Anwaltskanzlei am 22. Oktober mitgeteilt, dass sie keinen Anlass sehen,
an ihrem Text inhaltliche Veränderungen vorzunehmen. Sie werden jedoch im die im Auftrag Ihrer Mandantinnen
vorgebrachten Interventionen erwähnen.
Tatsache ist nun einmal, und hier zitieren wir aus der sehr ausführlichen Biografie, enthalten im
"Projekt Darmstädter Straßennamen - Biografien erarbeitet von Dr. Holger Köhn, Büro für Erinnerungskultur,
Zuordnung gemäß der Empfehlungen des Fachbeirats Straßennamen"
[1], dass Prof. Kleukens
- 1932/33 Mitglied der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) wurde
- 1933 Mitglied des Stahlhelm wurde
- 1934 Mitglied der Sturmabteilung (SA) wurde
- ca. 1937 bis 1939 Beiträge in der Zeitung "Der SA-Mann. Kampfblatt der obersten SA-Führung" verfasste (ca. 30)
- 1937 Mitglied der NSDAP bis 1945 war
- 1942 zum SA-Sturmführer ernannt wurde
- 1943 zum SA-Obersturmführer ernannt wurde.
Ja, Prof. Kleukens wurde entnazifiziert und als Mitläufer eingestuft - über
diesen Begriff ließe sich viel schreiben und über die praktizierte Entnazifizierung noch mehr. Jede vor den
Ausschuss geladene Person konnte Personen benennen, die ein sogenanntes Leumundszeugnis formulierten. Ja, unter
denen, die für Prof. Kleukens aussagten, war auch ein ehemaliger SPD-Abgeordneter, unter seinen Leumundsgebern war
auch ein Alexander Posch, der 1941 der NSDAP beigetreten war.
Um dem Leser dieser Kontroverse die Haltung der Autoren zu verdeutlichen, dürfen wir nochmal an einige
geschichtliche Ereignisse erinnern:
- 1933 Am 1. April beginnt ein Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und
Rechtsanwälte. SA-Angehörige gehen gewalttätig
gegen Juden und gegen solche Personen vor, die den Boykott ablehnen.
- 1933 Polizei, SA und SS besetzen am 2. Mai die Einrichtungen des
Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) und der Einzelgewerkschaften. Die
Gewerkschaften werden zerschlagen.
- 1933 Mai/Juni Bücherverbrennungen
- 1933 Am 22. Juni wird die SPD verboten
- 1933 Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wird beschlossen. Es erlaubt die Zwangssterilisation
sogenannter "Erbkranker". (14.7.1933)
- 1933 "Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit" vom
14.7.1933 erlassen, um die rassenpolitischen Ziele durchzusetzen.
- 1933 Mit einem "Führerappell" ordnet sich der "Stahlhelm" öffentlich Hitler unter (24.9.1933)
- 1933 Mit dem Schriftleitergesetz wird die gesamte Presse in Deutschland "gleichgeschaltet". (4.10.1933)
- 1935 Hitler verkündet die Wiedereinführung der Wehrpflicht und den Aufbau der Wehrmacht mit einer Stärke von
580.000 Mann. Damit bricht das Deutsche Reich die Verpflichtungen zur Truppenbeschränkung des Versailler Vertrags.
Da die Wiederaufrüstung den Westmächten bereits seit längerem bekannt ist, bleiben ihre Reaktionen verhalten.
(16.3.1935)
- 1935 Auf dem Reichsparteitag verkündet Hitler die "Nürnberger Gesetze". Die Diskriminierung von Juden wird auf
eine rechtliche Grundlage nach biologistischen Kriterien gestellt. (10.9.1935)
- 1935 "Nürnberger Gesetze" vom 15.9.1935
- 1935 In Paris treffen sich 51 prominente Emigranten verschiedener politischer Richtungen zu Beratungen über
eine Volksfront gegen das NS-Regime, unter ihnen Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch und Lion Feuchtwanger. (26.9.1935)
- 1937 Juden werden im Deutschen Reich nicht mehr zur Promotion zugelassen. (15.4.1937)
- 1937 Die Errichtung des Konzentrationslagers (KZ) in Buchenwald beginnt.
- 1938 Deutsche Truppen marschieren in Österreich ein (12./13.3.1938)
- 1938 Vom NS-Regime als "entartet" eingestufte Kunstwerke können ab sofort
entschädigungslos enteignet werden. (31.5.1938)
- 1938 Allgemeines Berufsverbot für jüdische Mediziner (25.7.1938)
- 1938 Alle Juden müssen als zusätzlichen Vornamen Sara oder Israel annehmen. (17.8.1938)
- 1938 Reisepässe von Juden werden eingezogen, Neuausstellungen nur mit dem Aufdruck "J". (5.10.1938)
- 1938 Deutsche Truppen marschieren in die sudetendeutschen Gebiete ein, und 20 Tage später gibt Hitler Weisung
zur "Erledigung der Resttschechei". (1.10.1938)
- 1938 Am 9. November 1938 brannten die Synagogen in Deutschland. Kampftruppen der
Sturmabteilung (SA) und der SS veranstalten ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in ganz Deutschland. Mit
systematischen Misshandlungen und Morden werden Juden terrorisiert, über 25.000 werden in Konzentrationslager
gebracht. Zahlreiche Synagogen, Friedhöfe und jüdische Geschäfte
werden in der sogenannten Reichskristallnacht zerstört.
- 1938 Runderlass Himmlers zur systematischen Erfassung und erkennungsdienstlichen Behandlung aller
"Zigeuner" im Reichsgebiet. Nach Kriegsbeginn werden Sinti und Roma verstärkt Objekt
der NS-Rassenpolitik (Sterilisierung, KL-Einweisung, Deportation). Die Schätzungen zur Zahl der im NS-Machtbereich
ermordeten Sinti und Roma belaufen sich auf ca. 220.000. (8.12.1938)
- 1939 Vor dem Reichstag erklärt Hitler im Falle eines Krieges die "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa".
(30.1.1939)
- 1939 Nur Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) können ab sofort noch Beamte
werden. (1.3.1939)
- 1939 Einmarsch deutscher Truppen in die Tschecheslowakei (15./16.3.1939)
- 1939 "Kriegssonderstrafrechtsverordnung" (Wehrkraftzersetzung, Selbstverstümmelung, Defätismus) (26.8.1939)
- 1939 "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" (1.9.1939)
- 1939 Mit der Beschießung von polnischen Munitionslagern auf der Westerplatte bei Danzig durch das deutsche
Linienschiff "Schleswig-Holstein" beginnt der Überfall auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg. Die deutsche
Wehrmacht marschiert ohne Kriegserklärung in Polen ein. (1.9.1939)
- 1939 "Verordnung gegen Volksschädlinge" (Plünderung, Brandstiftung etc.) (5.9.1939)
- 1939 Erste Deportation von 2.500 Juden aus Wien und Mährisch-Ostrau, die über Fluss ins
sowjetische besetzte polnische Gebiet getrieben werden (verantwortlich: Adolf Eichmann) (Oktober 1939)
- 1939 Deportation von 360.000 Polen und 500.000 Juden aus den annektierten Gebieten ins Generalgouvernement
unter brutalen Bedingungen
- 1940 "Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen" (11.5.1940)
- 1940 Bis zu 80.000 Morde im besetzten Polen bis 1940
- 1941 Befehl zur Deportation von Juden aus dem deutschen Reichsgebiet in die Ghettos Karno, Lodz, Minsk und Riga
(Transporte bis Januar 1942). (14.10.1941)
- 1942 Wannsee-Konferenz in Berlin: Parteifunktionäre und Ministerialbeamte koordinieren unter Heydrichs Leitung
Maßnahmen zur "Endlösung der Judenfrage". (20.1.1942)
- 1942 Über 500.000 Ermordete (vor allem Juden) im Ostfeldzeug bis Frühjahr 1942
Bereits 1931 haben Gewerkschaften, Sozialdemokraten und bekannte Literaten gewarnt, wer NSDAP wählt, wählt den Krieg.
Also für jeden war ersichtlich und erspürbar, wohin die Reise geht! Und in dieser Zeit schließt sich Prof. Kleukens,
der ja mal einem sozialdemokratischen Wahlverein angehörte, den Nazis an, um ein Buch fertigzustellen.
In unseren Beiträgen haben wir bewusst auf Wertungen verzichtet.
Ja, er wurde "entnazifiziert". Er war Mitläufer. Aber haben nicht gerade die vielen Mitläufer, auch
Opportunisten, das Nazi-Regime erst am Leben erhalten?
Ja, er war Mitläufer und hat sich mit seinem angepassten Verhalten mit-schuldig gemacht! Aber als (ehemaliger)
Nationalsozialist darf dieser Mann nicht genannt werden?
Q:
[1]
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