DFG-VK Darmstadt "Von Adelung bis Zwangsarbeit - Stichworte zu Militär und Nationalsozialismus in Darmstadt"

Anders Karsten
Anders Karsten (ca. 1935) [2]


Karsten, Anders (20.9.1900 Goch, Kreis Kleve - 30.9.1959 Frankfurt) war ein aktiver NS-Gegner und baute nach 1945 die Reichsbahn im Bezirk Darmstadt wieder auf.

Anders Karsten besuchte von 1907 bis 1908 die Volksschule in Wiesbaden und von 1908 bis 1911 die Volksschule in Trier und erhielt anschließend "eine Erziehung und Ausbildung im Kadettenhaus Oranienstein und in der Hauptkadettenanstalt Berlin Lichterfelde" (so im von Anders Karsten verfassten Lebenslauf um 1946 [1]). Als noch nicht 18jähriger nahm er am Ersten Weltkrieg in Flandern teil.

Am 3. März 1918 bestand er die Fähnrichprüfung an der Haupt-Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde mit dem Prädikat gut. Entlassen aus dem Kriegsdienst wurde er erst am 19. Dezember 1919.

Nach einer Verwundung im September 1918 fuhr er "nach Genesung im Lazarett in Straßburg" zu Verwandten nach Kassel.

"Der Kriegsteilnehmer Anders Karsten", so das Zeugnis, erhielt vom Realgymnasium zu Cassel am 8. Juli 1919 das Zeugnis der Reife. Im Zeugnis ist auch festgehalten, dass er am 24. März 1918 in den Heeresdienst eingetreten und noch nicht aus diesem entlassen sei.

Aus dem Krieg kam Karsten mit dem festen Vorhaben zurück, sich mit dem Motto "Nie wieder Krieg" für ein demokratisches und pazifistisches Deutschland einzusetzen.

Karsten studierte ab 1920 an der Technischen Hochschule (heute Technische Universität) Darmstadt Maschinenbau, musste jedoch wegen des Todes seines Vaters das Studium abbrechen. Er arbeitete als Konstrukteur im Kranbau bei Beck und Henkel und bei Henschel & Sohn im Lokomotivwagenbau in Kassel.

Mitteilung
Mitteilung im Amtlichen Mitteilungsblatt 1945 [2]

Im Mai 1923 konnte er die Diplom-Vorprüfung für das Maschinenbaufach, das Zeugnis hat Prof. Max Gutermuth unterzeichnet, ablegen. Das Zeugnis der Diplom-Hauptprüfung trägt das Datum 25. November 1925 und ist von Prof. Wilhelm Wagenbach unterzeichnet.

Nach seinem Studium an der TH Darmstadt begann er im Oktober 1926 eine Ausbildung als Gewerbeoberlehrer in Köln und erhielt am 20. Juli 1927 das Zeugnis über die Staatliche Ausbildung als Gewerbeoberlehrer. Ein Jahr später, am 9. September 1929 wurde er vom Oberbürgermeister der Stadt Hagen (Westf.) "als Oberlehrer für den Berufsschuldienst im Bezirk der Stadt Hagen (Westf.) angestellt".

Am 29. August 1930 heiratete Anders Karsten die 1901 in Witten-Heven geborene Erna Westenfeld. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, am 8. August 1931 wurde Frithjof Carl Anders in Sachsenhausen/Waldeck geboren, ihm folgte am 4.11.1935 Detlev Max, geboren in Hagen.

In den 1930er Jahren führte er "die von Erziehungsministerium angeordneten Luftfahrtlehrgänge durch", bis die Einflussnahmen der Partei auf den Unterricht so sehr zunahmen, dass er aus innerer Überzeugung aus dem Schuldienst ausschied. Er fand im Februar 1937 eine Anstellung als Konstrukteur am Deutschen Forschungsinstitut für Segelflug in Darmstadt-Griesheim (siehe August-Euler-Flugplatz).

1938 wechselte er als Lehrer an die Ingenieurschule in Darmstadt und wurde mit dem Titel Baurat im technischen Schuldienst ins Beamtenverhältnis übernommen. Mit Urkunde vom 15. November 1940 "Im Namen des Volkes" wurde Karsten "unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit" zum Studienrat ernannt.

Als die Schule 1943 geschlossen wurde, um die Lehrkräfte und Schüler in der Rüstungsindustrie einzusetzen, wechselte Karsten zur Reichsbahn als technischer Angestellter.

Nach Einmarsch der US-Truppen in Darmstadt stellte er sich "für die Reorganisation der Reichsbahn zur Verfügung" und wurde vom kommissarischen Bürgermeister Ludwig Metzger und der Militärregierung damit betraut.

In Anerkennung seiner Verdienste ernannte ihn der Präsident der Deutschen Regierung für Starkenburg" Prof. Dr. Ludwig Bergsträßer am 1. Juni 1945 zum Reichsbahndirektor. Kurze Zeit später wurde er kommissarischer Leiter der Süddeutschen Eisenbahn-Gesellschaft und im Januar 1946 Dezernent in der Reichsbahndirektion Frankfurt am Main.

Spruchkammer
Auszug aus der Spruchkammer-Entscheidung vom 27. März 1947 [2]

Am 18. April 1945 wandte sich "Der Beauftragte für die Reichsbahn in Darmstadt" Karsten in einem Rundschreiben oder Aushang "An alle Mitarbeiter", in dem er unter anderem mitteilte, "seit dem 8.4.1945 ist die Zahl aller, die sich am Wiederaufbau beteiligen von 230 auf etwa 1200 gewachsen". Dort heißt es unter anderem:

"Zurückstehen oder Platz machen müssen alle, die vor 1933 in der Partei oder in der SS oder nach 1933 pol. Leiter in Partei oder Gliederungen waren. In leitenden Stellungen können sie nicht geduldet werden. Zurückstehen müssen die, die durch Denunziation andere bedrückt und in ihrem Fortkommen gehindert haben".

Anders Karsten engagierte sich auch politisch. Schon in früher Jugend interessierte er sich politisch und beschäftigte sich mit pazifistischen Ideen. So war er bereits 1928 der SPD beigetreten. Wegen der Zustimmung der SPD zum Bau von Panzerkreuzern stellte er 1932 die Beitragszahlung ein und schied somit als Mitglied der SPD aus. 1928 schloss er sich, seiner pazifistischen Überzeugung folgend der Deutschen Friedensgesellschaft an und blieb Mitglied bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933. Nach 1933 hatte er sich der verbotenen Sozialistischen Union angeschlossen und diente auch als Kurier.

Karsten war aber auch am 1. Juni 1938 (in einem zweiten Dokument steht das Datum 1. Mai 1937) Mitglied der NSDAP geworden. Er hatte sich auch weiteren NS-Organisationen wie NSFK, DAF, NSV, NS-Lehrerbund, Deutschen Luftsportverband und dem Reichsluftschutzbund angeschlossen.

Da sein Eintritt mit seinen politischen Freunden in SPD und Deutscher Friedensgesellschaft abgestimmt war, hielt er auch nach 1933 die Verbindung zu ihnen aufrecht. Sie standen auch nach 1945 zu ihm und bestätigten seine nicht ungefährliche Kuriertätigkeit und die Aufrechterhaltung der Kontakte während der NS-Gewaltherrschaft.

Zeugen waren unter anderen:

Von der Spruchkammer Darmstadt-Land wurde Anders Karsten zunächst als Mitläufer und am 27. März 1947 als Entlasteter eingestuft. Für die zweite Verhandlung hatte Karsten um Ausschluss der Öffentlichkeit gebeten, um die hierin benannten Personen des Widerstands vor Repressalien von Nazi-Anhängern zu schützen. Diesem Wunsch wurde jedoch nicht stattgegeben.

Und so war es auch selbstverständlich, dass sich Anders Karsten wieder politisch betätigte. So wurde er am 10. April 1947 von der Darmstädter Stadtverordnetenversammlung zum hauptamtlichen Dezernenten und Stadtbaurat gewählt. Das Amt trat er am 2. Mai 1947 an. Nach der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung am 25. April 1948 wurde er am 17. Juni 1948 erneut in dieses Amt für sechs Jahre gewählt.

Am 14. Oktober 1948 kam es in der Stadtverordnetenversammlung zu einem typisch politischen Manöver: Der Oberbürgermeister trat wegen der Ablehnung des Haushaltsentwurfs zurück und der Magistrat schloss sich ihm an. Anders Karsten widerrief seinen Rücktritt am nächsten Tag in schriftlicher Form. Er begründete den Widerruf auch damit, dass die ihm übertragenen Aufgaben eine Vakanz in der Verantwortung nicht zuließen. Tatsächlich ist, wie später gerichtlich festgestellt wurde, die Rücknahme des höchst folgenschweren Rücktritts mit seinem Verzicht auf Gehalt und Pensionsansprüche innerhalb von zehn Tagen folgenlos möglich; diese Frist wird eingeräumt, um dem Zurücktretenden eine Bedenkzeit einzuräumen. Im später folgenden Gerichtsverfahren wurde festgestellt, dass - entgegen der Rechtsauffassung der Stadt Darmstadt - der Rücktritt unwirksam war. Mit der Begründung, dass durch den Rücktritt das Arbeitsverhältnis aufgelöst sei, und es ohnehin in der neuen politischen Struktur keine Position für ihn gäbe, wurde auch kein Gehalt mehr gezahlt. Anders Karsten, vertreten durch Rechtsanwalt Kattler, reichte daraufhin Klage gegen die Stadt Darmstadt ein. Der folgende Prozess zog sich bis zum Schließen eines Vergleichs (wohl im ersten Halbjahr) 1952 hin, wobei Rechtsanwalt Kattler der Stadt mehrfach bewusste Verzögerungen vorwarf.

Am 11. Dezember 1948 wurde ihm mitgeteilt, "dass durch die Einführung der Magistratsverfassung für die Stadt Darmstadt auf Grund der Sitzung vom 25.11.1948 die von ihm innegehabte Stelle eines technischen Beigeordneten mit der Amtsbezeichnung "Stadtbaurat" in Wegfall gekommen sei. Er sei deshalb mit Wirkung vom 7.12.1948 aus dem Dienst bei der Stadt Darmstadt ausgeschieden".

Karsten hatte in einem Zivilverfahren gegen seine Entlassung geklagt und legte gegen eine Entscheidung des Darmstädter Landgerichts Beschwerde eingelegt, die vom Oberlandesgericht am 21.3.1950 zurückgewiesen wurde. An diesem Verfahren waren auch mindestens zwei Richter mit NS-Vergangenheit, der Oberlandesgerichtsrat Page (NSDAP-Mitglied seit 1937) aus Darmstadt und der Landgerichtsrat Holzinger (SS förderndes Mitglied), beteiligt.

Möglicherweise war der Rechtsvertreter der Stadt, Dr. Holtzmann, die treibende Kraft hinter den Versuchen, Anders Karsten loszuwerden. Im Ergebnis übte Karsten das Amt nur noch bis zum 31.12.1948 aus und wechselte im November 1950 als Oberbaurat im technischen Schuldienst an die Ingenieurschule und lehrte dort bis zur Versetzung in den Ruhestand am 1. Juli 1954.

Anders Karsten wohnte 1939 in der Liebigstraße 23 in Darmstadt, 1941 in der Bismarckstraße 36 (heute Alte Darmstädter Straße 6) in Nieder-Ramstadt-Trautheim.


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